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Jenaer Notizen


8. Nov. 2011

Die Stadt Jena gehört zu jenen Städten in Ostthüringen, in denen sich der Rechtsextremismus seit Jahren etabliert hat. Die örtliche Neonaziszene agiert dabei nicht lokal begrenzt, sondern vor allem in Ostthüringen, aber auch in bundesweiten Zusammenhängen vernetzt. Im Folgenden wird der Versuch unternommen, historische und organisatorische Linien nachzuzeichnen. Dabei kann allerdings Jena nicht isoliert betrachtet werden, da ansonsten die regionalen Vernetzungen nicht in den Blick kommen.

Zunächst aber noch einige Anmerkungen zur Stadt selbst: Jena hat knapp 100.000 Einwohner, davon etwa 95.000 mit deutscher Nationalität. Die Arbeitslosenquote liegt leicht unterhalb des thüringischen Durchschnitts bei derzeit etwa fünfzehn Prozent. Die Stadt ist Sitz der Friedrich-Schiller-Universität mit etwa 14.000 und einer Fachhochschule mit 3.200 Studierenden. Der wirtschaftliche Schwerpunkt liegt in der opto-elektronischen Industrie, darüber hinaus gibt es traditionsreiche Unternehmen der Glas- sowie der Pharmaindustrie. Viele Unternehmen sind in weltweite Zuliefer- und Abnehmerbeziehungen integriert, zumindest die´JENOPTIK AG als wohl bekanntestes ortsansässiges Unternehmen rühmt sich, in den Jahren seit 1990 zum „global player“ geworden zu sein.

Genese des Rechtsextremismus

Jena gehört zu jenen ostdeutschen Städten, in denen Neonazis auch vor 1989 aktiv waren. Bereits in den achtziger Jahren gab es hier eine Szene, die durch ihr Auftreten als Skinheads Opposition zur DDR demonstrierte. Dies als unpolitische oder jugendkulturelle Opposition gegen ein autoritäres System charakterisieren zu wollen, greift zu kurz: Gerade Jena war in diesen Jahren auch Ort einer linksalternativen Opposition, nicht zuletzt der Friedensbewegung: Sich hier als Skinhead zu bewegen, musste und sollte deutlich und bewusst als neofaschistische Variante der Opposition aufgefasst
werden. Im Übrigen wurden rechte Gruppen seinerzeit auch in benachbarten Städten und Dörfern erfasst, so in Gera und Saalfeld, Kahla und Stadtroda.
Nachweisbar sind auch überregionale Kontakte bis hin nach Berlin.

Zwischen zwei Republiken

Ab 1989/90 konnten die bereits agierenden Neonazis offen auftreten und werben. Als Rädelsführer traten diejenigen auf, die schon seit Jahren aktiv
waren und dies zumindest zum Teil noch heute sind. Überfälle auf definierte Gegner gehörten zum Alltag: Mehrfach wurden Ausländer angegriffen, ebenso das alternative Jugendzentrum „Kassablanca“ sowie ein Wohnprojekt linksalternativer Jugendlicher in der Karl-Liebknecht-Straße 58. Auch die
Junge Gemeinde Stadtmitte (JG), Treffpunkt linksalternativer Jugendlicher, war wiederholt Objekt der Aggression. Am 20. April 1990 wurde der Geburtstag Hitlers mit Reichskriegsflagge „gefeiert“, am Himmelfahrtstag („Herrentag“) sowie in der Nacht zum 3. Oktober 1990 jeweils das genannte Wohnprojekt überfallen. Dies alles setzte sich 1991 mit gleichen Zielen fort, im Zentrum standen die JG, das „Kassablanca“ sowie ein neues Wohnprojekt in der Elsa-Brandström-Straße 6. Im Juni und September diesen Jahres wurden zudem organisierte Überfälle gegenüber türkischen bzw. vietnamesischen Staatsbürgern registriert. (Rainer Fromm: Rechtsextremismus in Thüringen, Erfurt 1992, S. 9)

Zu dieser Zeit gab es ausgeprägte Kontakte sowohl zur damals noch nicht verbotenen FAP als auch zur NPD, die beide in Thüringen feste Strukturen
entwickelten. Eine der zentralen Personen dabei war der Weimarer Thomas Dienel, einst FDJ-Sekretär, nun am Auf- und Ausbau der NPD-Strukturen
beteiligt. 1991 trat Dienel aus der NPD aus und gründete 1992 die „Deutsch Nationale Partei“ (DNP), die regional auf Thüringen beschränkt blieb. Im
September 1992 berichtete das Fernsehen darüber, dass DNP-Mitglieder Wehrsportgruppen trainierten. Dienel wurde inhaftiert und verurteilt, gehört
aber bis heute zu den wichtigsten Drahtziehern im rechten Netz Thüringens – und dies mit engen Kontakten auch zu Jenaer Neonazis. (u.a. im Rahmen der
„Deutschen Alternative“, vgl. Bernd Wagner, Hg.,: Handbuch Rechtsextremismus, Handbuch 1994, S. 81 und S. 85)

Massenaufmarsch in Rudolstadt

Am Abend des 15. August 1992 blickte die Öffentlichkeit entsetzt auf Rudolstadt, vierzig Kilometer von Jena entfernt: Fast 2.000 Neonazis aus dem In- und Ausland konnten hier nahezu unbehelligt einen „Rudolf-Hess-Gedenkmarsch“ durchführen. Daran war natürlich auch die gesamte
Thüringer und Jenaer Szene beteiligt.

In Jena selbst treten Neonazis weiterhin offen auf: Tagelang befindet sich ein kleines Zeltlager im Stadtteil Lobeda, von dem aus wiederholt Menschen
angegriffen werden.

Die „Republikaner“

1993 erhielten die „Republikaner“ größere Aufmerksamkeit:  Die Stadtratsfraktion der DSU löste sich auf, zwei Stadtverordnete traten den „Republikanern“ bei und verschafften ihr somit eine Vertretung im Stadtparlament. Öffentliche Proteste blieben begrenzt, allerdings auch die Dauer der parlamentarischen Präsenz: Bei den Kommunalwahlen 1994 scheiterte die Partei an der Fünf-Prozent-Grenze. Einer der beiden Repräsentanten, Dr. Heinz-Joachim Schneider, als Angestellter bei der JENOPTIK AG beschäftigt, schaffte einige Jahre später die Wahl in den Ortschaftsrat Lobedas, mit 30.000 Menschen größter Stadtteil Jenas. Seit August 1998 ist er Vorsitzender des Landesverbandes Thüringen seiner Partei. Die „Republikaner“ werden übrigens erst seit Februar 1995 vom Landesamt für Verfassungsschutz beobachtet, obwohl bereits seit Anfang 1992 ein Landesverband besteht.

(Verfassungsschutzbericht Freistaat Thüringen 1998, S. 15)

Anti-Antifa

1994 trat erstmals die sogenannte „Anti-Antifa Ostthüringen“ an die Öffentlichkeit. Sie begreift sich als Bestandteil der militanten Neonazi-Szene mit einem Schwerpunkt in der Beobachtung und Bedrohung von Antifaschisten. Auf Bundesebene wurde das Anti-Antifa-Konzept 1992/93 begründet und mit der Veröffentlichung einer Liste von potentiellen Opfern im „Einblick“ in seiner Zielrichtung publik.

Führender Kopf in Ostthüringen ist Tino Brandt aus Rudolstadt, 1992 an der Organisation des Rudolf-Hess-Marsches beteiligt und 1994 Organisator eines
Skin-Konzertes in Rudolstadt. Anti-Antifa und Tino Brandt arbeiten eng mit anderen neonazistischen Organisationen und Personen zusammen und integrieren sich in bundesweite Zusammenhänge. Seit 1996 firmiert die Anti-Antifa Ostthüringen als „Thüringer Heimatschutz“ (THS). Der Bericht des Landesamtes für Verfassungsschutz schreibt 1998: „Die Zahl der Beteiligten erhöhte sich von anfangs 20 auf ca. 120 Personen. Diese Gruppierung bildete ein Sammelbecken für Neonazis, die hauptsächlich aus dem Raum Saalfeld/Rudolstadt, Gera, Jena, Sonneberg, Weimar, Ilmenau, Gotha, Kahla und Nordbayern kamen.“ (Ebenda, S. 30) Der THS gliederte sich in diesem Jahr in drei „Sektionen“: Jena, Saalfeld, Sonneberg. Zu den führenden Figuren neben Tino Brandt zählt seit der zweiten Hälfte der neunziger Jahre der Jenaer André Kapke.

Bombenbastler

Im September 1997 wurde am Jenaer Theater ein Koffer mit einigen Gramm Sprengstoff, jedoch ohne Zünder gefunden. Außen war er mit einem Hakenkreuz versehen. Andernorts tauchten weitere Bombenattrappen auf. Am 26. Januar 1998 durchsuchte die Polizei mehrere Wohnungen und Garagen in Jena. Obwohl sie in den Tagen zuvor zum Teil observiert wurden und zum Teil gar inhaftiert waren, konnten die THS-Mitglieder Uwe Bönhardt, Uwe Mundlos und Beate Zschäpe untertauchen. Sie waren der Herstellung von Bombenattrappen und Sprengkörper verdächtig, bei der Durchsuchung wurden u.a. vier funktionsfähige Rohrbomben gefunden. Den drei genannten Personen gelang die Flucht, sie wurden bis heute nicht gefasst. Der zuständige Staatsanwalt Arndt Köppen aus Gera mochte weder bestätigen noch dementieren, dass der Sprengstoff aus einem Überfall im Jahre 1991 auf eine Bundeswehrkaserne im nahen Großeutersdorf (bei Kahla) stammte. (TAZ vom 4. März 1998)

Staatliche Förderung eines Neonazi-Projektes

Ermittelt wurde in diesem Zusammenhang auch gegen Andre Kapke, eng mit den drei Flüchtigen befreundet. Allerdings blieben diese Ermittlungen
ergebnislos. Kapke konnte sich indes über eine neue Verdienstquelle freuen:
Mit 23000,- DM Existenzgründungshilfe aus dem Thüringer Sozialministerium wurde im November 1997 in Erfurt unter dem Namen „Neues Denken“ ein rechtes Zeitungsprojekt konstituiert, an dem sowohl Thomas Dienel als auch Kapke mitarbeiten, darüber hinaus auch ein Aktivist der Deutschen Volks-Union (DVU) Gerhard Freys. Das Landesamt für Verfassungsschutz schien ahnungslos, erst Medienveröffentlichungen stoppten den Skandal. Angesichts der erhobenen Rückzahlungsforderungen leiteten die rechten Jungunternehmer ein Gesamtvollstreckungsverfahren ein, so dass die Rückforderungen ins Leere liefen. So endete das Kooperationsprojekt des THS, der DVU und Thomas Dienels im Mai 1998.

Schwerpunkt Saalfeld

Ebenfalls 1997 gelang es der organisierten Rechten, eine Gaststätte in Heilsberg bei Saalfeld anzumieten. Hier fanden ab jetzt regelmäßige
„Mittwochstreffs“ und andere Veranstaltungen statt, Heilsberg entwickelte sich bis zur Kündigung durch den Vermieter 1998 zum logistischen Zentrum
insbesondere des THS. In einem Fernsehinterview teilte der Verfassungsschutzpräsident des Landes Thüringen dazu mit, dies sei aus
polizeilicher Sicht nicht unerfreulich, die Beobachtung sei leichter, wenn man wisse, wo sich die Gruppe treffe.

In diesem Zusammenhang konzentrierten sich die Neonazis mehr und mehr auf Saalfeld und Umgebung, wo sie äußerst erfolgreich an der Entwicklung einer „national-befreiten Zone“ im Stadtteil Gorndorf und an der Hegemonie in einem dort neu eröffneten Stadtteilzentrum arbeiteten. Auch hier waren Tino Brandt und Andre Kapke führend. Letztlich aber konnte das Konzept verhindert werden: Im Umfeld der Durchsetzung des Verbots einer antifaschistischen Demonstration in Saalfeld wurde Heilsberg im Oktober 1997 durchsucht und ein massives Waffenarsenal gefunden. Angesichts der Durchführung einer großen Antifa-Demonstration im März 1998, die bundesweite Aufmerksamkeit auf die Stadt lenkte, sowie der zehn Tage später erfolgten Ermordung einer Vierzehnjährigen Saalfelderin durch einen Fünfzehnjährigen aus dem Umfeld der örtlichen rechten Szene gerieten die neonazistischen Gruppen unter Druck. Ihre Bewegungsfreiheit wurde eingeengt, Kapke und andere orientierten sich wieder mehr nach Jena. Hier wurden zum Ende der neunziger Jahre hin einige neue bzw. akzentuiertere Strategien sichtbar.

Gegnerbezug

Zum einen arbeiten sich die Jenaer Neonazis nun vermehrt an ihren selbsternannten Gegnern ab. Dies ist vor allem die JG Stadtmitte, die sich
sehr intensiv an Vorbereitung und Durchführung der Antifa-Demonstration in Saalfeld beteiligt hatte. Wiederholt standen Neonazis vor der JG und wollten entweder an Veranstaltungen „teilnehmen“ (s.u.) oder das Gebäude stürmen. Am 10. Oktober 1998 beispielsweise konnte ein Überfall von etwa vierzig Jenaer und Saalfelder Neonazis durch die Polizei verhindert werden. Im Dezember 1999 wurde informell bekannt, dass die Jenaer Szene mit erhoffter Verstärkung von außerhalb einen Überfall plant, da die Verstärkung ausblieb, unterließen die etwa fünfzig bis sechzig bereits versammelten Neonazis den Überfall.

Der Schafspelz

Zum anderen versucht der THS in der bürgerlichen Öffentlichkeit, den Eindruck des gesprächsbereiten, selbst von angeblicher „linker Gewalt“
betroffenen und von der Gesellschaft zu Unrecht Ausgestoßenen zu erwecken.
Immer wieder versuchen Ostthüringer Neonazis (mit unterschiedlichem Erfolg) an öffentlichen Diskussionen teilzunehmen und diese Bilder zu vermitteln. Beispielhaft für diese Rolle ist der Inhalt eines Flugblattes der Jungen Nationaldemokraten, das im Dezember 1999 auf dem Jenaer Weihnachtsmarkt verteilt wurde: „Aber wer sind diese Rechten wirklich? Es ist die Jugend, die keiner will. Sie haben keine Clubräume oder sonstigen Einrichtungen, die für sie da sind. Deshalb treffen sie sich auf Straßen, hinter Plattenbauten oder auf Spielplätzen. Sie haben keinen Jugendpfarrer, der sich um sie kümmert. Ihnen wird keine Möglichkeit zur sinnvollen Freizeitgestaltung gegeben.“ (Flugblatt der Jungen Nationaldemokraten Jena, „Denkanstöße zum Weihnachtsmarkt 99“)

Einige Beispiele für die Praxis der „Teilnahme“ an Diskussionsveranstaltungen:

Ende Januar 1998 wurde in Saalfeld eine DGB-Veranstaltung „besucht“, die Diskussion dominiert, andere Teilnehmer eingeschüchtert und fotografiert. Gleiches geschah im Mai 1998 bei einer Veranstaltung im Saalfelder Stadtteil Gorndorf zum Thema „Grenzen und Möglichkeiten der Sozialarbeit“.

Im Januar 1999 bei einer von der Stadt eingeladenen Diskussionsveranstaltung zum Thema „Rechtsextremismus“ in der Jenaer integrierten Gesamtschule dann eine andere Strategie: Hier verzichtete der THS auf direkte Einschüchterung und konzentrierte sich auf eigene „Diskussionsbeiträge“, in denen das Bild einer vernachlässigten und ausgegrenzten (rechten) Jugend gezeichnet wurde. Ähnlich das Vorgehen im
August und Dezember 1999 bei zwei von SPD bzw. Friedrich-Naumann-Stiftung organisierten Veranstaltungen in Jena, bei denen man sich hauptsächlich auf den anwesenden Präsidenten des Landesamtes für Verfassungsschutz konzentrierte. Vergeblich Einlass suchten sie hingegen im Oktober 1999 bei einem Diskussionsabend der JG Stadtmitte und im Februar 2000 bei einer Filmveranstaltung des DGB im Jenaer Gewerkschaftshaus zum Thema „Rechtsextremismus in Thüringen“.

Rechtes Organisationsangebot

Zum Dritten erfolgte nach der Abwahl des ehemaligen NPD-Landesvorsitzenden Frank Golgowski (er war Anfang der neunziger Jahre direkter Nachfolger Dienels in dieser Funktion) 1998 zwar eine engere Anbindung an die NPD, gleichwohl aber agiert in Jena ein breites rechtes Netzwerk, das kaum Konkurrenzverhalten erkennen lässt. Während die Öffentlichkeit vielfach auf eine gegenseitige Neutralisierung konkurrierender rechter Organisationen hofft, scheinen diese sich selbst mittlerweile eher zu ergänzen. Was im Februar 2000 über die Nachbarstadt Gera geschrieben wurde, gilt gleichermaßen für Jena: „Die Ausdifferenzierung der Neonazi-Szene in der Region hat keineswegs zu deren Zersplitterung geführt, sondern allenfalls die Angebotspalette für rechte Jugendliche erweitert.“ (Jungle World vom 9. Februar 2000)

Für die Öffentlichkeit wurde die Kooperation erstmals am 18. Juli 1998 sichtbar, als der THS an einer Wahlkampfkundgebung der Republikaner in Jena teilnahm. Hauptredner der Republikaner war ihr Bundesvorsitzender Schlierer, der sich vom Auftreten des THS jedenfalls nicht irritieren ließ und erst recht nicht abgrenzte. Im Januar 1999 traten bei der bereits erwähnten Diskussionsveranstaltung in der integrierten Gesamtschule Jenas die rechten
Gruppen wiederum in trauter Gemeinsamkeit auf: Vertreter der Republikaner und einer Burschenschaft saßen neben Andre Kapke und ergänzten sich auch in ihren „Diskussionsbeiträgen“ vortrefflich.

Im Dezember 1999 wurde eine weitere Ebene der Zusammenarbeit aufgedeckt:

Nachdem wiederholt berichtet wurde, dass die Burschenschaft „Jenensia“ Diskussionsveranstaltungen auch für den THS geöffnet hatte, sollte nun mit
Peter Dehoust einer der bekannteren neonazistischen Demagogen bei der „Jenensia“ auftreten. Gegendemonstranten und Medienbeobachter stellten fest, dass auch hier THS, Burschenschafter und Republikaner einträchtig miteinander im Veranstaltungsraum saßen und bekannte örtliche Neonazis den Saalschutz organisiert hatten. Nachdem die Jenensia einen Teil ihrer Mitglieder aufgrund der kritischen Diskussionen in der Öffentlichkeit ausgeschlossen hatte, gründeten diese Mitte Februar 2000 in Jena eine neue Burschenschaft, die „Normannia“. (Ostthüringer Zeitung vom 9. März 2000) Festredner war der ehemalige Berliner Innensenator Heinrich Lummer (CDU), dem immer wieder Kontakte zu rechtsextremen Kreisen nachgewiesen werden.

Sein Auftritt signalisierte gleichzeitig die Bedeutung der Jenaer Region für die bundesweiten Zusammenhänge des rechten Spektrums. Die Gründung der „Normannia“ selbst zeigt auch, dass die Organisationsvielfalt erhalten bleiben und eine spezifische Organisation für Studierende angeboten werden
soll. Dies aber als Zeichen für eine Intellektualisierung der rechtsextremen Szene zu werten, wie dies der Präsident des Landesamtes für Verfassungsschutz tut, geht an der Sache vorbei: Dies ist längst geschehen, dazu braucht es keine „Normannia“ in Jena.

Weitere Organisationszusammenhänge, in denen sich THS-Mitglieder bewegen sind die Junge Landsmannschaft Ostpreußen (JLO), ein „Bildungswerk für Politik und Kultur“, unter dessen Deckmantel im September 1999 kommunale Räume für eine Veranstaltung angemietet werden konnte und die Gesangsgruppe „Eichenlaub“. Auf der Homepage dieser Barden werden Skinheads zwar umworben, deren Kultur aber quasi wegen „Überfremdung des deutschen Liedgutes“ abgelehnt. Eine Kostprobe der von „Eichenlaub“ abgelehnten „Blood and Honour“-Kultur aber gab es im November 1999 dennoch, und zwar in Schorba, einem Dorf ganz in der Nähe Jenas: Über 1.000 Skinheads aus ganz Deutschland reisten, logistisch hervorragend dirigiert, zu einem Konzert in den örtlichen Landgasthof, wo u.a. die Szene-Bands „Radikahl“ und „Stahlgewitter“ auftraten. Die Polizei, vom Verfassungsschutz offensichtlich nur unzureichend informiert, schritt erst ein, als gegen Ende der Veranstaltung der Gasthof verwüstet wurde.

Empirisches Material

Empirisches Material über die Verbreitung rassistischer und rechtsextremistischer Ideologie liegt für Jena nicht vor. Lediglich eine nicht-repräsentative Befragung aus dem Jahre 1999 gibt einige wenige Anhaltspunkte: Im Auftrag des Jugendamtes der Stadt Jena führte das Psychologische Institut der Friedrich-Schiller-Universität Jena eine Befragung von 600 Schülerinnen und Schülern an sechs Schulen der Stadt
durch. Ergebnis: „Die Ergebnisse der Befragung vermitteln ein breites Meinungsbild. So stimmen beispielsweise zwanzig Prozent aller Befragten
rechtsextremen Einstellungen zu. Und sechzehn Prozent akzeptieren in diesem Zusammenhang sogar Gewalt. Allerdings ist dieser Anteil an Regelschulen weitaus höher als an den Gymnasien. Insgesamt zeigten sich immerhin zwölf Prozent aller Befragten bereit, gegen Ausländer Gewalt anzuwenden.“

(Ostthüringer Zeitung vom 16. Juli 1999)

Neun Prozent der Gymnasiasten und 35 Prozent der Regelschüler betrachteten sich bei dieser Befragung selbst als rechtsgerichtet. (Thüringer Landeszeitung vom 16. Juli 1999)

Reaktion eines Schuldirektors, dessen Schule in die Befragung einbezogen war: Diese Tendenz könne dem Image einer Schule schaden. (Ebenda) Andere Gefährdungsobjekte rechtsextremen Denkens wie zum Beispiel Flüchtlinge oder Andersdenkende sind nicht erwähnenswert. Die Wahlergebnisse in Jena ergeben bislang ein anderes Bild, die rechten Parteien spielen keine besonders bedeutende Rolle. Zu Landtagswahlen ist die Stadt in zwei Wahlkreise unterteilt, folgende Ergebnisse sind zu verzeichnen: Die NPD erreichte 1990 in beiden Wahlkreisen jeweils 0,3 Prozent, trat 1994 nicht an und erzielte 1999 0,3 bzw. 0,4 Prozent. Die DVU kandidierte 1999 erstmals und erreichte 1,9 bzw. 2,0 Prozent. Die „Republikaner“ schließlich erzielten 1990 0,6 und 0,5 Prozent, 1994 als alleinig kandidierende Rechtspartei 1,1 und 1,5 Prozent sowie 1999 0,9 und 1,0 Prozent.

Die kreisfreie Stadt Jena wird umschlossen vom Saale-Holzland-Kreis, der bei Landtagswahlen wiederum in ebenfalls zwei Wahlkreise unterteilt ist. Hier
ergaben sich 1999 höhere Ergebnisse der Rechtsparteien: Im Wahlkreis I erzielten DVU, NPD und „Republikaner“ zusammengenommen 4,6 Prozent, im Wahlkreis II gar 5,1 Prozent, wobei jeweils die DVU über drei Prozent, die „Republikaner“ ein Prozent und die NPD 0,4 Prozent erzielten. Da Jena nicht
von seinem Umland zu trennen ist, sollten also die rein städtischen Wahlergebnisse keinerlei Grund zur Unbesorgtheit sein.

Alltagsbilder

Das Auftreten organisierter und unorganisierter rechter Gruppen gehört mittlerweile auch in Jena zum alltäglichen Bild. Etliche Schulen und
öffentliche Plätze sind Schauplatz, dazu auch Einkaufszentren wie die mondäne Goethe-Galerie und der dazugehörige Ernst-Abbe-Platz, der quasi als Campus der Friedrich-Schiller-Universität fungiert. Im Unterschied zu Saalfeld ist es der örtlichen Rechten noch nicht gelungen, tatsächlich eine
national-befreite Zone zu errichten, doch können als antifaschistisch wirkende oder bekannte Bürger nicht mehr jeden Ort der Stadt angstfrei
aufsuchen. Mindestens mit intensiven Blicken und Gesten wird deutlich gemacht, dass ihre Anwesenheit nicht erwünscht ist.

Zu besonderen Anlässen kommen dann auch besondere Handlungen: Der jährliche Weihnachtsmarkt im Stadtzentrum wurde 1999 zum Angriffspunkt auf Andersdenkende. Am 27. November provozierten etwa 25 Rechtsextreme vor dem Gebäude der JG Stadtmitte, so dass die Polizei zur Hilfe gerufen werden musste. Am Abend des gleichen Tages wurden linksalternative Jugendliche tätlich angegriffen, das gleiche wiederholte sich am 30. November direkt auf dem Weihnachtsmarkt. In den folgenden Tagen reagierte die JG Stadtmitte, indem sie in größeren Gruppen den Weihnachtsmarkt besuchte, um linken Jugendlichen überhaupt die Möglichkeit eines Weihnachtsmarktbummels zu geben. Ab diesem Zeitpunkt war für einige Tage ein großes Polizeiaufgebot präsent, jedoch richtete sich dessen Eingreifen weniger gegen die rechten Provokationen als gegen die JG Stadtmitte, deren Auftreten offenbar als eigentliche Provokation aufgefasst wurde. Dies war nicht allein, aber auch Ergebnis einer Strategie der Neonazis, die bei der Polizei Strafanzeigen gegen Beteiligte an den JG-Aktionen erstatteten.

Zu den Alltagsbildern gehört auch das Verhalten der Kommunalpolitik und, nachgeordnet, der Polizei. Dies soll daher ebenfalls kurz skizziert werden,
wobei schon vorab gesagt sei, dass dieses Verhalten eher indifferent ist.
Während in Saalfeld die örtlichen Politiker nahezu aller Parteien (mit Ausnahme der PDS) bestrebt waren, die rechten Zusammenhänge zu leugnen und eher die örtlichen und regionalen Antifaschisten als Unruhestifter zu stigmatisieren, lässt sich dies für Jena auf jeden Fall nicht sagen. Alle im
Stadtrat vertretenen Parteien und auch der Oberbürgermeister (FDP) beteiligten sich im Juli 1998 an einer Protestkundgebung gegen den Auftritt
der „Republikaner“ (s.o.). Im Redebeitrag des Oberbürgermeisters bei der Protestkundgebung aber fand sich völlig ohne äußeren Anlass die Totalitarismustheorie in Reinkultur wieder, als er dazu aufrief, sich „den Radikalen von Links und Rechts entgegen zu stellen“. Und als Ende des
gleichen Jahres eine Gegenkundgebung gegen einen geplanten NPD-Aufmarsch stattfand, hatten sich die Reihen der Beteiligten bereits gelichtet: Außer antifaschistischen Jugendlichen und einigen engagierten Bürgerinnen und Bürgern waren nur wenige örtliche Politiker (allerdings wiederum aller Parteien) erschienen, um gegen die NPD zu demonstrieren.

In einer Art „Jahresrückblick“ des Oberbürgermeisters auf das Jahr 1998 wiederholte er seine Kritik an den „Radikalen von Links und von Rechts“, die die Stadt Jena „zum Aufmarschgebiet“ machen würden. (Ostthüringer Zeitung und Thüringer Landeszeitung vom 28. Dezember 1998)

Es zeigt sich in Jena insgesamt das Bild einer Kommunalpolitik, die zwar das Auftreten rechter Organisationen und Parteien ablehnt, dem aber linksalternative Gruppen und Veranstaltungen umstandslos gleichstellt und damit schon ihre eigene Unfähigkeit zur Analyse der tatsächlichen Situation
unter Beweis stellt. Zeigen antifaschistische Gruppen und Persönlichkeiten rechte Zusammenhänge auf oder protestieren dagegen öffentlich, laufen sie
Gefahr, in Verkehrung der Tatsachen zum eigentlichen Ärgernis zu werden.

Dies widerspiegelt sich zumindest vielfach in der Berichterstattung der örtlichen Medien und natürlich auch im Verhalten der Polizei.

Es darf vermutet werden, dass insbesondere in den Reihen der Kommunalpolitiker auch ein großes Maß an Hilflosigkeit gegenüber den rechten Entwicklungen vorhanden ist. Es gibt in Thüringen kein Beispiel für entschlossenes und durchdachtes Handeln einer Kommune gegen rechte
Hegemoniebestrebungen, das beispielhaft sein könnte. Und: Es gibt offensichtlich auch keine Kommune, die sich die eigenen Probleme und die
eigene Hilflosigkeit eingestehen und davon ausgehend Konzepte entwickeln und erproben will. Dies dennoch durchzusetzen, muss zu den Aufgaben
antifaschistischer Politik gehören.

Michael Ebenau, Aktionsbündnis gegen Rechts; Jena  im März 2000