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Der Leseladen der JG-Stadtmitte ist eine sich wöchentlich treffende Gruppe, deren Ziel es ist, inhaltlich zu den Themenfeldern Neonazismus, Antisemitismus sowie aktuell gesellschaftspolitisch zu arbeiten. Darüber hinaus werden Aktionen, welche die JG-Stadtmitte durchführt inhaltlich auf- und nachbearbeitet. Ziel ist es dabei ein politisches Grundverständnis zu stärken, aber auch Handlungsalternativen aufzuzeigen.

In diesem Zusammenhang hat der Leseladen einen Nachbereitungstext zu den Demonstrationen in Dresden 2012 verfasst:


JG-Tradition Nr.129: DRESDEN

Im Februar 2006 fuhren wir – Jugendliche und junge Erwachsene der JG-Stadtmitte Jena erstmalig nach Dresden, um uns an den dortigen antifaschistischen Protesten gegen den seit den 90iger Jahren stattfindenden Neonaziaufmarsch zu beteiligen. Es galt, den europaweit größten Naziaufmarsch zu verhindern. Dieses gelang erstmalig am 19.Februar 2010 durch eine breite Bündnismobilisierung.
Uns irritierte nicht nur, dass alljährlich fast ungestört tausende Nazis durch Dresden marschieren konnten, sondern uns interessierten auch die Ursachen und Gründe. Im Herbst 2010 begannen wir in der wöchentlichen Info- und Gesprächsrunde der JG-Stadtmitte uns mehrfach mit der Bombardierung Dresdens und den heutigen Naziaufmärschen zu beschäftigen und in kontroversen Debatten eine Position zu finden. Dabei stießen wir auf widersprüchliche Informationen, Opferzahlen und Zeitzeugenberichte und beschlossen, Gunnar Schubert, Autor des Buches „Die kollektive Unschuld. Wie der Dresden-Schwindel zum nationalen Opfermythos wurde“, in die JG einzuladen. Dabei waren wir insbesondere an einer Auseinandersetzung mit dem sogenannten „Dresdner Opfermythos“ und dem Gedenkkult, welcher sich unseres Erachtens nach in Dresden etabliert hat, interessiert.
Resultierend aus der Auseinandersetzung mit dem Thema überlegten wir in der JG eine gemeinsame Aktion für den Heidefriedhof, um unseren Standpunkt öffentlichkeitswirksam zu verdeutlichen.[1] Dafür wollten wir ca. 600 Grabkerzen zu dem Wort ‚SHOAH‘ zusammenstellen und diese auf dem Heidefriedhof auf dem Weg zur Gedenkmauer positionieren. Symbolhaft wollten wir die Gedenkkultur auf dem Heidefriedhof und die damit für uns verbundene Gleichsetzung von Auschwitz und Dresden – von der SHOAH und der Bombardierung Nazi-Deutschlands durch Alliierte – kritisieren. Die Gleichsetzung verbildlicht sich in 12 auf dem Heidefriedhof aufgestellten Stelen, welche jeweils den Namen eines Ortes eingraviert haben. Eine Stele steht für Dresden. Gleichberechtigt daneben Warschau, Auschwitz…
Am Heidefriedhof angekommen wurden wir von der Polizei vom Zugang abgehalten, schließlich sogar gekesselt. Ohne Begründung verwehrte man uns den Zugang, während gleichzeitig an uns vorbei etwa 40 Nazis der Jungen Landsmannschaft Ostdeutschland (JLO) und Freier Kameradschaften, ohne Personenkontrollen diesen völlig selbstverständlich betreten konnten. Insgesamt nahmen ca. 150 Nazis an dem offiziellen Gedenken der Stadt Dresden auf dem Heidefriedhof teil. Uns wurde bis zuletzt der Zugang verwehrt. So entschieden wir uns, unsere Aktion vor der Frauenkirche durchzuführen – einem weiteren Ort, an dem der Dresdner Gedenkmythos zelebriert wird. Mit ca. 600 Grabkerzen schrieben wir das Wort SHOAH. Dieser Kerzenschriftzug wurde nach wenigen Stunden entfernt, die Kerzen den „Opfern der Bombardierung“ umgewidmet und der Schriftzug „SHOAH“ zusammengeknüllt. Es folgten Platzverweise für den Bereich der Frauenkirche.
Dies hinderte uns jedoch nicht daran, bereits wenige Tage später – am 19.Februar 2011 – erneut nach Dresden zu fahren, um uns an den dortigen Protesten gegen den Nazigroßaufmarsch zu beteiligen, welcher schließlich ein zweites Mal erfolgreich verhindert wurde.

Die Nachwirkungen von Dresden 2011

Am 10.August kam es für uns zu einer bitteren Überraschung. Die Wohnung von Lothar König, unserem Stadtjugendpfarrer wurde von sächsischen Polizeibeamten durchsucht. Der Vorwurf lautete: aufwieglerischer Landfriedensbruch nach §125. Eine weitere Straftat, welche ihm vorgeworfen wird, ist die Beteiligung an einer kriminellen Vereinigung nach § 129 [2]. Oder um es direkter zu formulieren: Lothar König, Kopf und Leiter einer imaginären ‚antifaschistischen Sportgruppe‘, mit dem Ziel Nazis gewaltsam anzugreifen. Im Zuge der Durchsuchung wurde unser blauer VW-Bus, der „JG-Lauti“ von sächsischen Behörden beschlagnahmt. Dies bedeutet für uns einen herben Einschnitt in die tägliche Arbeit der JG-Stadtmitte. Vom Einkauf fürs Offene Café über Besuche von Jugendlichen im Gefängnis, Wohnungsumzüge, Fahrten zu Rüstzeiten oder zum Fußballtraining bis hin zu Demonstrationen – der „Lauti“ ist für uns mehr als nur ein Lautsprecherwagen.
Dieser Versuch, durch Einschüchterung eine Reduzierung des Engagements der JG zu erreichen, schlug fehl. Bereits im September 2011 unterstützten wir die erneute Mobilisierung nach Dresden durch den Dreh des Mobivideos [3]. Kurz darauf begann erneut die Planung für den Februar 2012. Daraus resultierten inhaltliche Veranstaltungen – sowohl zu den repressiven Maßnahmen sächsischer Behörden [4] als auch zur inhaltlichen Auseinandersetzung mit dem Dresdner Gedenkmythos[5].

Der 13.Februar 2012 – Solidarität und Kritik!

Durch die eigene Erfahrung der Repression durch sächsische Behörden erweiterten sich unsere Zielstellungen. Neben der Kritik an der Gedenkkultur wollten wir auch unseren Protest gegen die Einschüchterungen antifaschistischen Engagements und die damit einhergehende Beschlagnahmung unseres „Lautis“ zum Ausdruck bringen.
Dieser war und ist für uns eben nicht nur ein Stück Blech, sondern wie es Lothar am 13. Februar 2012 ausdrückte: unser „Solidaritätswerkzeug“!
Und so begannen erneut, ab Herbst 2011 in den Inforunden lange Diskussionen um die Aktionsform zum 13. Februar 2012. Wir thematisierten: das sächsische Demokratieverständnis, die erfahrene Polizeiwillkür, den Dresdner Gedenkmythos und den Verlust unseres „Lautis“. Die Diskussionen wurden von inhaltlichen Veranstaltungen, Filmen und Vorträgen begleitet. Schließlich verständigten wir uns auf die sogenannte „Kranzaktion“. Mit einer Andacht wollten wir unsere Kritikpunkte öffentlich zum Ausdruck bringen. Dazu bestellten wir einen Kranz mit der Aufschrift „Dem Lauti zum Gedenken Jahreszahlen“ und „Kein Vergeben. Kein Vergessen“. Wir vergeben unseren Lauti nicht, schon gar nicht an sächsische Polizeibeamte und wir vergessen unseren Lauti nicht.
Damit wollten wir mehrfaches erreichen: mit einem Kranz für ein Auto wollten wir der Gedenkkultur der Dresdner auf dem Heidefriedhof entgegentreten und mit der Aufschrift auf die seit 2011 stattfindende Einschüchterung antifaschistischen Engagements durch sächsische Behörden und den Verlust unseres „Lautis“ aufmerksam machen.
Diesen Kranz legten wir – einer Gruppe von ca. 40 Leuten – am 13.Februar 2012, während einer Andacht von Lothar König, vor dem Dresdener Heidefriedhof nieder. In und mit dieser Andacht fasste Lothar all unsere Kritikpunkte zusammen, machte jedoch über die Kritik hinaus deutlich, wie notwendig weiteres Engagement ist.
Jahrelang trauerten Bürger der Stadt Dresden gemeinsam mit Parteivertretern einträchtig mit großen Gruppen von Neonazis auf dem Heidefriedhof um die Opfer der Bombardierung Dresdens 1945. Mit dieser Form des kollektiven Gedenkens und der Stilisierung Dresdens zu einer „unschuldigen Stadt“ findet für uns eine Verkehrung der Geschichte statt. Die Rolle der Deutschen im 3. Reich ist die der Täter. Ihnen kollektiv zu gedenken, stellt für uns eine Verharmlosung und Relativierung der Verbrechen unter dem Nationalsozialismus dar.

Seit Jahren werden Menschen, die sich gegen Neonazis engagieren, kriminalisiert. Spätestens seit der erfolgreichen Verhinderung des Neonazi-Aufmarsches 2011 in Dresden werden Blockierer_innen mit Verfahren überzogen, wird Organisator_innen der Proteste Landfriedensbruch vorgeworfen, mehr als 40 – vor allem jungen Menschen – die Bildung einer kriminellen Vereinigung unterstellt. Sie alle eint eins: das Engagement gegen Neonazis.

Wir wollten mit unserer Aktion gegen die Gedenkkultur Dresdens, gegen die Stigmatisierung als „Linksextremisten“ und somit die Gleichsetzung antifaschistischen Engagements mit einer menschenverachtenden Ideologie, gegen die stattfindenden Einschüchterungsversuche aber auch gegen die Einschnitte in elementare Grundrechte protestieren.
Lothar König sprach in seiner Andacht zu und für uns und sicherte auch in unserem Namen all denen Solidarität zu, die sich nicht beirren lassen, weiter aktiv einzutreten: gegen Nazis, gegen Repression & Einschüchterung, gegen den Gedenkmythos, gegen sächsisches Demokratieverständnis.
Mit „Schritt für Schritt ins Paradies“ beendeten wir unsere Aktion am Heidefriedhof und begaben uns in die Dresdner Innenstadt – um an den dortigen Protesten gegen den Nazi-Aufmarsch teilzunehmen.

Leseladen der JG Stadtmitte Jena, 22.03.2012