Seit vielen Wochen gibt es an verschiedenen Orten Deutschlands und auf zahlreichen Internetseiten eine intensive und kreative Unterstützung für die Band Pussy Riot. Täglich verfolgen wir engagiert und informiert das Schicksal der mutigen Frauen, die für ein freies demokratisches Russland unerschrocken kämpfen und in einem an mittelalterliche Hexenverfolgung gemahnenden Schauprozess in Moskau vorgeführt worden sind. Da verwundert es uns sehr, dass ausgerechnet in der Bundesrepublik ein heftiger Streit um die Wittenberger Nominierung der Band Pussy Riot für den Lutherpreis „Das unerschrockene Wort“ ausgebrochen ist. Wir wollen hier unserem entschiedenen Widerspruch gegen die Argumente der Preisgegner Ausdruck verleihen. Es gibt Äußerungen in den Medien (Mitteldeutsche Zeitung, Artour), die sich selbst disqualifizieren wie: „chaotische Weiber, die vermummt in eine Kirche eindringen, sich diskriminierend und beleidigend äußern“ – „Pussy Riot sind eine kriminelle militante Gruppe, die das Heiligste von Russland beleidigen, die Kirche!“ – „Vermummt herum zu hopsen wie kaputt, das ist keine Kunst, das ist skandalös!“ – „Solche Leute gehören eingesperrt!“
Die den Protestbrief mittragenden Mitglieder der Mitteldeutschen Landeskirche und die Pussy Riot-Unterstützer-Community sind befremdet von der Kritik namhafter Theologen (Propst Siegfried Kasparik und Friedrich Schorlemmer) der Evangelischen Kirche. Auf deren zentralen Argumente möchten wir hier näher eingehen.
Betroffen machen uns die Aussagen von Propst Siegfried T. Kasparick. Laut Mitteldeutscher Zeitung vergleicht er den Auftritt der jungen Frauen von Pussy Riot ausdrücklich mit antijüdischem Hooliganismus gegen Rabbiner und Synagogen in Deutschland. Das ist geschichtsvergessen und auch als private Meinung nicht hinnehmbar. Die Äußerungen von Propst Kasparick haben durch die wichtigen Funktionen, die er inne hat, eine besondere Bedeutung. Als Beauftragter der Landesbischöfin für Reformation und Ökumene, als Mitglied der Dialogkommission der EKD mit dem Moskauer Patriarchat der Russischen Orthodoxen Kirche und als Vertreter im „Petersburger Dialog“ müsste er doch die Interessen der Menschenrechte und eines freiheitlichen Protestanismus vertreten. Stattdessen verwendet er die Argumentationsmuster der autoritären russischen Staatsmacht.
Auch würde man von einem protestantischen Christen Verständnis und Rückhalt erwarten, wenn sich junge Frauen in der Kirche zu Wort melden. Hier geht es um die elementaren Menschenrechte in einem Staat, der sich zunehmend diktatorisch entwickelt. Der Patriarch Kyrill hat die 12-jährige Amtszeit von Putin als „Wunder Gottes“ bezeichnet und zu dessen Wahl aufgerufen. Der Ostergottesdienst wurde in der Christ-Erlöser-Kathedrale als großes Staatstheater von Putin und der orthodoxen Kirchenführung inszeniert. Deshalb war die Moskauer Hauptkirche genau der richtige Ort, gegen Putin und die Haltung der orthodoxen Hierarchie zu polemisieren. Dass der Beauftragte für Reformation Kasparick ausgerechnet den „russischen Papst“ Kyrill verteidigt, ist daher nicht nachzuvollziehen. Wir können nur hoffen, dass die Mitteldeutsche Landeskirche in allen ihren Institutionen an ihre freiheitlichen protestantischen Traditionen anknüpft und sich mit Entschiedenheit von den Vergleichen des Propstes Kasparick distanziert.
Besonders enttäuscht haben uns die Verlautbarungen des Wittenberger Theologen Friedrich Schorlemmer. Wir schätzen ihn als einen unbequemen Mahner für Demokratie und Gerechtigkeit. Wie kaum ein anderer Bürgerrechtler steht er dafür, dass sich die Evangelische Kirche in der autoritären DDR für die Oppositionsbewegung geöffnet hat. Gerade seine Aktionen auf Kirchentagen wie „Schwerter zu Pflugscharen“ waren kreativ und provokant und sind mit den Aktionen von Pussy Riot durchaus zu vergleichen. Werner Schulz, selbst bekannter Bürgerrechtler, wirft deshalb auch den Kritikern der Preisverleihung vor, sie hätten von der protestantischen friedlichen Revolution 1989 nichts verstanden. Diese ging von solchen ideenreichen Gruppen: Basisgruppen, Punkgruppen, der Kirche von unten aus. Ohne den Protest in den Kirchen wäre nichts zustande gekommen, betonte er.
Umso unverständlicher ist nun ausgerechnet die Kritik Friedrich Schorlemmers an der Preisnominierung. Er verurteilte zwar die Strafe für die Bandmitglieder und lehnte auch weniger die Aussagen als den Stil der Aktionen ab. Im Radiointerview meinte er , wenn eine Frauenband sich einen solchen Namen zulege, hätten deren Mitglieder offenbar „persönliche Vagina-Probleme, die sie auf die Ebene der Gesellschaftskritik“ erhöben. Dabei übersieht Friedrich Schorlemmer, dass der Bandname eine ganz bewusste Reaktion auf die frauenfeindlichen Tendenzen in der russischen Gesellschaft ist. Putin, berühmt durch seine körperbetonten machohaften Auftritte, hat mehrfach geäußert, dass der eigentliche Platz der russischen Frauen am häuslichen Herd bei den Kindern sei. Dabei geht er ein Bündnis mit der Orthodoxie und ihrem reaktionären Frauenverständnis ein, mit einer Kirche, die in ihrer Geistlichkeit nach wie vor ein hierarchischer Männerbund ist. Warum dann ausgerechnet ein protestantischer Theologe es kritisiert, wenn darum gebetet wird, dass die Mutter Gottes feministischer werde, bleibt unbegreiflich. Friedrich Schorlemmer sagt auch, dass wir es ablehnen würden, wenn Menschen an der Klagemauer gegen Netanjahu, im Petersdom gegen Berlusconi und im Berliner Dom gegen Gauck demonstrieren würden. Israel, Italien und Deutschland sind jedoch demokratische Staaten. Werner Schulz entgegnet an anderer Stelle, niemand würde in Deutschland gegen Angela Merkel in einer Kirche demonstrieren. Wir haben andere Möglichkeiten. Russland ist aber auf dem Weg zu einer autoritären Diktatur. In allen demokratischen Staaten gibt es eine relativ deutliche Trennung von Staat und Kirche. In Russland ist das nach der Verfassung auch so. Die Wirklichkeit sieht anders aus, es gibt eine zunehmende unheilvolle Allianz zwischen Thron und Altar in Russland.
Putin stützt sich zunehmend auf die orthodoxe Hierarchie, die an ihre reaktionäre Staatsgläubigkeit der Zarenzeit anknüpft. Sie ist zum Wahlhelfer von Putin geworden. Da ist es extrem mutig und wichtig, dass die jungen Frauen sich die Moskauer Christ-Erlöser-Kathedrale als Ort des Protestes für ihr 30-Sekunden-Punkgebet ausgesucht haben. Friedrich Schorlemmer führt auch an, dass dieser Ort symbolisch für die grausame Christenverfolgung unter Stalin stehen würde, der das Gebäude sprengen ließ. Später wurde an der Stelle ein Schwimmbad errichtet. Ein in der Tat verabscheuungswürdiger kulturbarbarischer Akt. Die Wiederrichtung, die zu begrüßen ist, war aber eben nicht nur ein Zeichen der Wiedergutmachung an der Orthodoxie. Hier wurde ein extrem prunkvolles Gebäude erbaut, das wie kein zweites die Mächtigkeit und Unbesiegbarkeit der Zarenherrschaft und ihrer verhängnisvollen Allianz mit der Orthodoxie symbolisieren wollte. Es ist heute natürlich auch ein Zeichen für die neue Verbindung der Herrschaftselite in Russland mit der Kirche, nicht für eine basisorientierte Kirche. Die Frauen von Pussy Riot singen in ihrem Punkgebet gegen diese Verbindung an, gegen Putins Machtanspruch und die willige Rolle der Kirchenoberen als Wahlhelfer. Aber sie gehen weiter und verurteilen darin auch die reaktionären Rollenbilder der Frauen und die Verfolgung der Homosexuellen in Russland. Gerade diese Minderheit steht durch eine extrem homophobe Gesetzgebung in letzter Zeit unter Druck.
Friedrich Schorlemmer hält die Form des Gebetes als Protestschrei für ungeeignet. Dabei gibt es doch gerade in der Evangelischen Kirche vielfältige Gebetsformen: Friedensgebete, Fürbitten und sogar Militärgottesdienste. Da wird ein Gebet für mehr Demokratie wohl statthaft sein. Auch bezeichnet er im Radiointerview das Punkgebet als Lästerung, andere Kritiker sehen darin Blasphemie. Gegenüber der Leipziger Volkszeitung erhebt Friedrich Schorlemmer ebenfalls diesen Vorwurf: „Eine Lutherstadt sollte keine Gotteslästerung ehren.“ Zum Vorwurf der Gotteslästerung hat Elfriede Jelinek treffende Worte gefunden: „…sie haben sich gegen ihren Präsidenten Putin geäußert, in einer Kirche, man stelle sich vor!, sie haben die Gottesmutter gegen ihn zu mobilisieren versucht, wen haben sie da gelästert? Gott oder Putin? Oder sind die beiden gleichzusetzen? Wer Putin beleidigt, beleidigt Gott?“
Menschrechtsverletzungen gehen uns alle an. Wir können dazu in Russland nicht schweigen und die russische Zivilgesellschaft auch nicht. Die österreichische Nobelpreisträgerin Elfriede Jelinek formuliert es so: „ … jeder Protest, der sich gegen die Gefährdung von Grundrechten richtet, ist Pflicht, nicht Recht. Die jungen Frauen mussten tanzen, singen, schreien, es blieb ihnen gar keine andre Wahl.“ Der Theologe Schorlemmer sagt, Pussy Riot hätte das Heiligste verletzt. Was ist denn das Heiligste, wenn nicht das Eintreten für Menschenrechte, Demokratie, Gerechtigkeit und Freiheit seiner Mitbürger? Der Kern jeder Religion muss der Einsatz für die Mitmenschen sein!
Auch beruft sich Schorlemmer darauf, dass Putin doch gewählt sei. Aber gerade die Umstände dieser Wahl sind doch höchst zweifelhaft. Die Gründung der Punkband war eine unmittelbare Reaktion auf die Ankündigung des operettenhaften Ämtertausches von Putin und Medwedjew. Presse und Fernsehen sind weitgehend gleichgeschaltet, Russlands „lupenreine“ Scheindemokratie verstärkt in den letzten Monaten seine autoritären Tendenzen. Eine kleine Gruppe von Oligarchen und Staatsbeamten beherrscht das Land zu ihrem Vorteil. Die Wahlfälschungen bei der Duma-Wahl, die Verschärfung der Versammlungsgesetze, die gesetzliche Stigmatisierung der russischen NGOs als ausländische Agenten und deren finanzielle Austrocknung sowie die Prozesslawine gegen die Opposition sind weitere beunruhigende Zeichen.
Friedrich Schorlemmer unterstützt mit großem Engagement seit Jahren russische Oppositionelle, deren stillerer Protest im Westen in der Tat zu wenig wahr genommen wird. Aus diesen Kontakten leitet er das vielleicht wichtigste Argument gegen die Preisverleihung her. Viele Oppositionelle halten die Aktionen der Aktivistinnen für kontraproduktiv für ihre Arbeit, denn sie werden in großen Teilen der Bevölkerung abgelehnt. Das rührt aber von der massiven Kampagne der kremlnahen Medien her, die die Frauen als von religiösem Hass gesteuert, darstellen. Die Mitglieder von Pussy Riot wollten keine religiösen Gefühle verletzen. Das haben die Frauen von Pussy Riot in allen Statements und im Schauprozess immer deutlich gemacht. Wir sollten in Deutschland nicht den staatlichen Verleumdungen auf den Leim gehen. So eine Auszeichnung wie der Preis der Lutherstädte kann auch wieder Menschen in Russland zum Nachdenken bewegen, denn dort gibt es ebenfalls eine große Unterstützerszene bei Künstlern, auf Demonstrationen, bei Internetaktivisten, wie überhaupt bei vielen jungen unzufriedenen Menschen überall in Russland. Für diese wäre die Preisverleihung an die Band ein Zeichen der Ermutigung.
Die Literaturnobelpreisträgerin Elfriede Jelinek steht nicht allein. Eine große Anzahl bekannter Künstler in aller Welt haben sich mit den inhaftierten Frauen von Pussy Riot solidarisch gezeigt. Die Bandmitglieder sind mit dem Lennon-Ono-Preis ausgezeichnet worden, das Europaparlament hat sie für den „Sacharow-Preis für geistige Freiheit“ nominiert. Nicht nur Amnesty international hat den Schauprozess in Moskau kritisiert, sondern in vielen Ländern demonstrieren junge Menschen für die engagierten Frauen. Die Pussy-Riot-Band fasziniert durch eine erfrischende, originelle und zeitgemäße Protest-Kultur. Die unerschrockenen Mädchen sind so zu einer „Ikone“ der globalen Freiheitsbewegung geworden. Die weltweiten Proteste zeigen deutlich: sie sind das Symbol einer sich wieder engagierenden Generation!
Friedrich Schorlemmer findet eine Aktion wie die der Pussy-Riot-Frauen für eine Mutter verantwortungslos. Nadeschda Tolokonnikowa, die Frontfrau der Band, wie ihre Mitstreiterin Maria Aljochina zu 2 Jahren Lagerhaft verurteilt, antwortet dazu im Spiegel: „Ich kämpfe dafür, dass meine Tochter in einem freien Land aufwächst.“ Den jungen Frauen ist mit ihrer couragierten künstlerischen Aktion gelungen wie niemandem bisher zuvor, die Weltöffentlichkeit auf die autoritären gefährlichen Tendenzen in Putins Russland aufmerksam zu machen. Das mutige Auftreten für Demokratie in Russland in dem unwürdigen Schauprozess erfordert höchsten Respekt. In ihren reflektierenden Prozessreden, vorgeführt in Käfigen, aber auch in ihren klugen Interviews haben sie sich als Frauen des unerschrockenen Wortes erwiesen.
Der Europaabgeordnete Werner Schulz formuliert es so: „Der idealste Preis, den man den Frauen geben kann, den gibt’s in Wittenberg: ‚Das unerschrockene Wort‘. Martin Luther war genauso ein Mann, der gegen die Kirchenleitung gekämpft hat, Jesus ist wegen Gotteslästerung verurteilt worden, weil er die hohen Priester, Philister und Schriftgelehrten angegriffen hat, Was tun die jungen Mädchen? Die Mädchen sagen: ‚Dieser Patriarch glaubt an Putin. Der Schweinepriester soll an Gott glauben.` Das ist absolut richtig!´“
So ist zu hoffen, dass nicht die unverständliche Kritik an der Preisnominierung, ob gewollt oder nicht, weiter die Propaganda der Unfreiheit betreibt, für einen neuen Zaren mit Sowjetallüren. Wir Europäer brauchen ein demokratisches Russland als Partner, dafür kämpfen die Frauen von Pussy Riot. Die mutigen Bandmitglieder haben den Preis „Das unerschrockene Wort“ mehr als verdient. Wittenberg darf nicht zum Zentrum des Zurückweichens vor autoritärer Machtanmaßung werden, es soll Zentrum des unerschrockenen Wortes eines zivilen demokratischen Protestes bleiben!
Wir rufen Wittenberg auf, an der Nominierung der Band für den Lutherpreis „Das unerschrockene Wort“ festzuhalten und appellieren an die Lutherstädte wie auch an die Kirche Luthers, die Mitteldeutsche Kirche, sich für die Preisvergabe an die mutige Band einzusetzen.
Jena, den 16.10.2012
Johannes Kühn, Weimar (Endredaktion)
Junge Gemeinde Stadtmitte Jena
Lothar König, Stadtjugendpfarrer Jena
Prof. Dr. Manuel Vogel, Theologe FSU Jena
Gotthard Lemke, Pfarrer Friedenskirche Jena
Andrew Aborygen Skladowski, Warschau – RiotGirls.WomenoftheYear
Kerstin Berg, Berlin – RiotGirls.WomenoftheYear
Rolf Draht, Baden-Baden – Pussy Riot Page
Hans Krimmer, Troisdorf – Free Pussy Riot Cologne/Bonn
Janine Mananabas, Köln – Free Pussy Riot Cologne/Bonn
Christine Pokotilova, Paris – freepussyriot.org.
(stellvertretend für die Aktivisten der Pussy-Riot-Unterstützer-Community)
Quellen:
Elfriede Jelinek: Singen. Tanzen. Schreien, 2012 http://www.elfriedejelinek.com/
Marcel Duclaud: Auszeichnung. Pussy Riot spaltet Wittenberg, in: Mitteldeutsche Zeitung, 18.09.12
http://www.mz-web.de/servlet/ContentServer?pagename=ksta/page&atype=ksArtikel&aid=1347702698044
Theologe Schorlemmer: Pussy-Riot-Protest war geschmacklos, Interview mit Friedrich Schorlemmer, in: Deutschlandradio Kultur, 10.10 2012 http://www.dradio.de/dkultur/sendungen/thema/1889244/
Bernd Lähne: Lutherpreis für Pussy Riot? Vorschlag der Stadt Wittenberg stößt auf Empörung, in: LVZ Online, 07.10.2012
Streit über Auszeichnung für Pussy Riot, Bericht und Interview mit Werner Schulz, in: MDR-Kulturjournal Artour, 04.10.2012
http://www.mdr.de/sachsen-anhalt/dessau/pussy-riot106_zc-22763fc5_zs-f9a54ada.html
„Wir wollen eine Revolution“, Interview mit Nadeschda Tolokonnikowa, in: Der Spiegel (36), 3.9.2012, S.92-94.
Siehe auch: Fotoserie –Ostermesse in der Christ-Erlöser-Kathedrale 2012