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Liebe Caroline-Frieda (vom Verfasser geänderter Name),
ich befürchte, in dem unten beigefügten OTZ-Artikel vom 04.11.2017 erfahren zu haben, welche Aufgabe und wessen Auftrag Du diese Woche in Jena wahrnimmst. Wenn das nicht der Fall ist, freu ich mich.
Wenn meine Vermutung aber zutrifft, frage ich mich bzw. frage ich Dich, nach welchen Maßstäben Du bestimmte Aufgaben und Aufträge übernimmst?. Dies gilt umso mehr, wenn es sich um ein Aufgabenfeld handelt, das den 09. November zum Inhalt hat.

Wenn Du den gesamten OTZ-Artikel liest, wenn Du dort auch mitliest, welch ausdrücklich „positive“ Aussagen von den im Artikel benannten Akteuren des diesjährigen 9.November aufgestellt werden, die wiederum in Relation zum 09. November des Vorjahres stehen – alles „Gute“ des Jahres 2017 setzt „Negatives“ aus dem Vorjahr voraus; sie bedingen einander -, so stellt sich die Frage, wie solch überraschende Kehrtwende zustande kommt.
Ich frage mich, was ist Besonderes geschehen, daß plötzlich gelingt, was bisher, zumindest im Jahr 2016 schiefgelaufen sein soll? Liegt es an den Personen, die – bisher im Dornröschenschlaf von einem zauberhaften Kuß aus dem Schlaf erweckt – für dies phänomenale Geschehen verantwortlich sind? Was ich nicht recht einzuschätzen weiß; ich kenne zwar die meisten dieser Leute – die Einen mehr, die Anderen weniger -, doch von keinem sind mir bestimmte Erweckungserlebnisse noch sonstige zauberhafte Ereignisse bekannt geworden.
Wenn ich also die Frage nach den Personen nicht abschießend zu klären vermag, stellt sich mir als aufmerksamen Leser die Frage: Was ist denn im vergangenen Jahr alles schiefgelaufen, das dieses Jahr besser gemacht werden wird. Ich lese also den OTZ-Artikel in Antithese zu den Ereignissen von 2016 und finde einige interessante, allerdings auch erschreckende Antworten.

So erklärt Musikpädagoge Klaus Wegener (vorsichtiger ausgedrückt: so zitiert die OTZ denselben): „Wir wollen uns diesen 9. November zurückholen.“. Als Antithese gelesen bedeutet das: Im vergangenen Jahr haben uns die Neonazis den 09. November „weg-geholt“, also irgendwie gestohlen, geraubt, abgenommen oder oder.
Wie aber haben die Neonazis dieses gemacht? Wie konnte ihnen dieses gelingen?
Darauf gibt im vorhergehenden Absatz Katharina Kempken Antwort, wenn sie erklärt: „Einig sei man sich im Gedanken, vorher etwas zu organisieren‘ – und ‚nicht in Reaktion‘“. Womit sie ausdrückt, daß

– letztes Jahr keine oder zumindest zu wenig Einigkeit bestand,
– daß irgendwelche Leute letztes Jahr nicht in der Lage gewesen sind, etwas Eigenständiges zu organisieren,
– daß allein in Reaktion auf Neonazis gehandelt worden ist,
– daß – zuletzt – als Folge, die Neonazis „2016 am 9. November unterm Signum der Demonstrationsfreiheit durch Jenaer Straßen zogen.“.

Diese Rückschlüsse mögen überzogen, zumindest als etwas „scharf“ gedacht erscheinen. Es ist wohl auch möglich, wenn nicht gar wahrscheinlich, daß die diesjährigen Akteure sich der Tragweite der eigenen Aussagen nicht bewußt sind.
Mag alles sein und irren ist menschlich.
Aber eines läßt sich nicht verleugnen oder gar schlechtreden: Die Eindeutigkeit der Proteste gegen Naziaufmärsche im Jahr 2016, die Breite der jeweiligen Bündnisse, nicht zuletzt zum 09. November 2016, waren beeindruckend und die Strahlkraft in die Stadtgesellschaft bemerkenswert.
Die Darstellung des Geschehens am 09.11.2016 von Leuten, die es besser wissen könnten (und die es auch besser wissen), kommt einer Tatsachenverdrehung nahe. Deren Propagandisten reichen bis in die Spitze der Jenaer Stadtpolitik, die Handlanger und Mitläufer – gekauft oder eingelullt – kommen aus allen Gesellschaftsschichten.
Nur eine Gruppe fehlt – außer den Neonzis, gegen die es vorzugehen gilt, und den Juden, die es faktisch nicht mehr gibt: die der Akteure aus 2016 und vorangegangener Jahre.

Stellt sich die Frage,

– wer ist der eigentliche „Gegner“ der heutigen Propagandisten von 2017?
– Von wem wollen sie sich wirklich den 09. November zurückholen?
– Und vor allem: Um welches November-Ereignis handelt es sich, das genannt wird „dieser 9. November“?

Die Antwort aus dem OTZ-Artikel bzw. die Antwort der zu Wort kommenden diesjährigen Akteure ist ernüchternd und verheerend zugleich:
Am Abend des diesjährigen 09. November gibt es ein lukratives Konzert in der Stadtkirche mit Heinz Ratz und Dota Kehr Duo; der Eintritt kostet „für alle 10 Euro“ – ein für bürger-liches Publikum akzeptabler Eintriffpreis; das Motto lautet: „Tag und Nacht der Demokratie in Jena“. Von Antifaschismus ist nicht die Rede. Das paßt auch nicht in diesen eher vérsöhnlichenden Tag, „in dessen Vielfalt des Gedenkens OB Schröter eine neue Qualität zivilgesellschaftlichen Engagements“ sieht.

Wie armselig und einseitig waren demgegenüber die Gedenk-Veranstaltungen der vergangenen Jahre, die einzig erinnerten an die Vernichtung der Juden (später kamen noch die Sinti und Roma und die Homosexuellen dazu) in Deutschland und folgend in Europa. Diese Verfolgung nahm seinen Anfang – manche werden es noch wissen – am 09.November 1938.

Dagegen gibt es nun „noch mehr Licht in der Lichtstadt“ (Jena ist gemeint); endlich wird ein „faires Bild der Jenaer Bürgerschaft“ gezeigt; „die Auftritte des Tages werden per Video und Foto“ aufbereitet und „Jenaer Schüler bei den Aktionen an den Stolpersteinen“ gefilmt. Und zuletzt werden – das muß man sich wohl als Höhepunkt des Abends vorstellen – „die Mitstreiter der Initiative ‚Klang der Stolpersteine‘ zum Westbahnhof schreiten und alle dortigen Gäste zum gemeinsamen Singen des Kanons ‚Dona Nobis Pacem‘ einladen“.

So klingen die Stolpersteine nun und muß niemand mehr stolpern, und alle singen und bitten Gott um Frieden.

Ich aber bitte Gott: Sei uns gnädig und gib uns etwas Sinn und Verstand, und laß uns nicht allein mit diesen Neudeutschtümlern christlichen Anstrichs.

Ich wünsche Ihnen kein fröhliches Demokratiefest, oder, um es mit Johannes Bobrowski zu sagen: „Es möchte der Holunder sterben an eurer Vergeßlichkeit.“

Lothar König