Beinahe ein halbes Jahr ist es nun her, dass das Tun jener mörderischen Gruppierung bekannt wurde, die sich selbst „Nationalsozialistischer Untergrund“ nannte. Seitdem tagen die Ausschüsse, ermitteln die Ermittler und debattieren die Politiker. In Jena, der Stadt der mutmaßlichen Täter und Helfer, geht das Leben weiter.
Auf der Straße, die vom Jenaer Johannes-Tor zur Kirche St. Michael führt, drängt sich die Stadt, zwischen Fahrrädern, Cafétischen und Kinderwagen. Die Sonne brennt, nur im Schatten des Turmes, in dem die Unternehmungen der Internet-Ära sitzen, spürt man die Kühle des frühen Aprils.
Kühl ist es auch in dem langen, dunklen Durchgang, der wie eine Schleuse von der lärmenden Einkaufstraße wegführt. An seinem Ende befindet sich ein verschlossenes Tor, aus stählernem Gitter gefertigt, dahinter liegt ein kleiner, lichter Hof.
In dem Hof, an einem Tisch, sitzt der Pfarrer. Er ist nicht groß, etwas gedrungen und hat sich das Gesicht mit viel Haar zuwachsen lassen. Gerade dreht er sich eine Zigarette.
Lothar König ähnelt nicht nur physiognomisch jenem Mann, der einst den Kommunismus erfand. Denn auch wenn die Jenaer Junge Gemeinde vielleicht nicht das ist, was sich der Atheist Marx unter einer Revolution vorstellte: Mit den Graffiti an den Wänden und dem linksautonomen Besucherverkehr ergibt sich zumindest die Anmutung einer Parallele.
König, das jedenfalls scheint gewiss, ist nicht der Typ Pfarrer, der seinem Gott von der Kanzel herab dient. Seine Kirche ist der Hinterhof. Hier predigt er den jungen Menschen, dass auch sie etwas wert sind. Und hier, so sagt er es zumindest, hält er sie davon ab, zu den anderen, den Nazis, zu gehen.
Dieser Konflikt hat den Pfarrer geprägt, genauso wie der Pfarrer den Konflikt prägte. Nicht immer ging es dabei christlich zu. In den 1990er-Jahren kämpften Linke und die Rechte um die Stadt, im Wortsinn. Es gab Überfälle, auf beiden Seiten, wobei die Nazis brutaler, enthemmter zuschlugen. König selbst wurde verletzt, auch seine Tochter Katharina, die heute für die Linke im Landtag in Erfurt sitzt.
Unter den Angreifern waren auch jene, die heute den Generalbundesanwalt, Hunderte Polizisten und etliche Parlamente beschäftigen, und die entweder tot sind oder in einem Hochsicherheitsgefängnis sitzen. Ihre Namen sind selbst normalen Menschen beinahe geläufig: Uwe Böhnhardt, Uwe Mundlos und Beate Zschäpe und ihre Helfer Ralf Wohlleben, Carsten S., Holger G. . . .
Der Pfarrer, so sieht er es, hatte in diesem Kampf nicht nur die Rechtsextremen gegen sich, sondern auch die Stadtverwaltung, viele Bürger und Teile der Amtskirche. Dass die sächsische Staatsanwaltschaft ihn angeklagt hat, weil er auf einer Dresdner Demonstration gegen die Nazis zu Gewalt aufgerufen haben soll, fügt sich in das Bild, das er von sich zeichnet.
Inzwischen aber ist König so etwas wie eine Berühmtheit. Dutzende Fernsehteams und Journalisten besuchten ihn im vorigen Herbst in seinem Hof, um sich erklären zu lassen, wie es denn sein konnte, dass junge Menschen aus Jena zu Terroristen wurden.
Das ZDF schickte sogar einen Schriftsteller vorbei, mit bengalischer Herkunft, der seine Angst vor der Stadt, in der er nie zuvor war, in die Kameras sagte. Tausende Einwohner empörten sich, in Leserbriefen, im Internet, in einer Diskussion im Theaterhaus. Jena sei keine braune Stadt, riefen sie, so wie es Udo Lindenberg gerufen hatte, als er im November auf der großen Wiese ein Sonderkonzert wider die Neonazis gab.
Grundsätzlich geändert hat sich wenig
Aber das ist Monate her. „Die Leute“, sagt König, „haben jetzt andere Sorgen.“ Er, der Pfarrer, verstehe dies, zumal der Schock des Herbstes „grundsätzlich wenig“ verändert habe. Es gebe eine „stärkere Sensibilisierung“, vielleicht. „Mehr kann man wohl nicht erwarten.“
So ist es wohl. Die Stadt war gerade wieder in den Nachrichten, aber eher als die neidische Projektion verarmter Ruhrme-tropolen. Den Rest erledigt der Frühling, der die Bäume und Blumen im „Paradies“ blühen lässt, wie der Park am Ufer der Saale heißt. Auf den Wiesen liegen die jungen Menschen und vertreiben sich die Zeit bis zum Beginn des Sommersemesters.
In der Universität ist schon einiges los. In den Gängen des Hauptgebäudes an der Schlossgasse sitzen die Abiturienten, um sich zum Studium einzuschreiben, einige von ihnen haben dunkle Hautfarbe und sprechen eine fremde Sprache.
Dort befindet sich auch das Internationale Büro der Hochschule, das Jürgen Hendrich leitet. „Nichts“, sagt er, nichts habe sich durch den Terror, der aus Jena kam, verändert. Hendrich will das positiv verstanden wissen. Kein ausländischer Student sei abgesprungen, nicht einmal ein Interessent. „Selbst die Kollegen aus den USA, die sonst das Gras wachsen hören, haben kaum nachgefragt.“
Der Anteil der ausländischen Kommilitonen liegt bei sieben Prozent, bei den Erstsemestern waren es zuletzt zwölf Prozent. Absolut sind dies 1400 Studierende – und jedes Jahr, sagt Hendrich, steige diese Zahl.
Der offizielle Sprecher der Universität gibt sich vorsichtiger. Er könne nur hoffen, sagt Axel Burchardt, dass „da nichts hängen bleibt“. Dann berichtet er schnell von dem „interdisziplinären Kompetenzzentrum“, das man zum Thema Rechtsextremismus plane und davon, wie die Hochschule am Runden Tisch und in den Netzwerken gegen die Neonazis aktiv sei.
Auch Albrecht Schröter erzählt sofort vom Runden Tisch. „Die Lehre“, sagt er, „ist sehr einfach.“ Die Stadt, ihre Bürger, alle müssten wachsam bleiben.
Schröter ist der Oberbürgermeister von Jena. Er steht ziemlich einsam vor der Schwimmhalle in Lobeda-West, um eine Parkbank, die er gespendet hat, zu eröffnen. Es ist Wahlkampf, am übernächsten Sonntag wird darüber abgestimmt, ob er im Amt bleibt.
„Jena hat keine weiße Weste.“
Das Plattenbaugebiet liegt zwischen der Autobahn, der Bahnlinie nach Gera und der Schnellstraße, die in die Innenstadt führt. Die Eltern von Uwe Böhnhardt wohnen hier in einem der Zwölf-Geschosser.
Die Hochhäuser des Stadtteils Winzerla, wo Uwe Mundlos und Beate Zschäpe aufwuchsen, liegen auf der anderen Seite der Gleise.
„Jena hat keine weiße Weste“, sagt der Oberbürgermeister. „Jena ist wie ein buntes Tuch, in dem es auch braune Flecken gibt.“ Doch dies sei „leider noch nicht richtig eingedrungen“ in das Bewusstsein der Stadt. „Man geht wieder zur Tagesordnung über.“
Dabei, sagt Schröter, müsse man doch die Geschichte der 1990er-Jahre aufarbeiten, „so schmerzhaft“ dies sei. Er stelle sich ein Kolloquium vor, kein Tribunal, „sondern eine wirklich offene, kritische Debatte darüber, wie das damals entstehen konnte und warum es nicht ernst genug genommen wurde“.
Schröter war auch mal lange Pfarrer – und Bürgerrechtler. Er stritt, demonstrierte und agitierte schon immer gegen die Neonazis, er hat dafür Preise bekommen und er besitzt damit „ein klares Alleinstellungsmerkmal“, wie man es in der Spitze der Landes-SPD formuliert, der er angehört.
Doch Wahlkampf macht der Politiker Schröter mit seinem Alleinstellungsmerkmal dann lieber doch nicht. Unter seinen Zielen, die er auf seiner Internet-Seite auflistet, finden sich bessere Kindergärten, größere Ansiedlungen und schönere Kulturstätten. Von der Aufarbeitung des Rechtsextremismus steht dort nichts.
Die Schnellstraße von Neu-Lobeda in die Innenstadt führt an Alt-Lobeda vorbei, einem kleinen, längst eingemeindeten Dorf. Mittendrin, an der Jena- ischen Straße 25, findet sich der vormalige Gasthof „Zum Löwen“. Das Fachwerkgebäude heißt seit Langem nur noch das „Braune Haus“, weil hier die örtliche NPD ihren Sitz hatte und sich hier die Menschen trafen, die dem Terrortrio geholfen haben sollen.
Ein paar hundert Meter vom „Braunen Haus“ entfernt, gleich gegenüber der Schnellstraße, steht die Garage, die Beate Zschäpe anmietete und in denen Böhnhardt und Mundlos ihre Bomben bastelten.
Seitdem die Stadt im Sommer 2009 das Haus wegen Baufälligkeit schloss, trifft sich das zugehörige Jungvolk nur noch hinten im mit Stacheldraht versperrten Garten, wo ein Banner neben der Reichsflagge hängt. „Thüringer Heimatschutz“ steht darauf in großen Lettern. Und darunter: „Der Gott, der Eisen wachsen ließ, der wollte keine Knechte“. Draußen hängen noch die Briefkästen vom NPD-Kreisverband und von Ralf Wohlleben, der in Köln in Untersuchungshaft sitzt, wegen des Verdachts der Beihilfe zu sechsfachem Mord.
Der Weg zurück in die Stadt führt wieder am Paradies vorbei, vorbei an Joggern, Skatern und der trainierenden Mannschaft des FC Carl Zeiss Jena. Dazwischen sitzt eine Gruppe junger Männer, in schwarzen Kapuzenjacken und dunklen Sonnenbrillen.
„Sie trauen sich schon wieder ins Zentrum, auf den Markt, in die Cafés“, behauptet einer, der schon ewig in der Stadt wohnt, der die Szene beobachtet und der schon Böhnhardt und Mundlos kannte.
Die nächste Generation, sagt er, stehe bereit.
Quelle, Thüringer Allgemeine vom 10.04.2012