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Konrad Erben hat am vergangenen Freitag den Zivilcouragepreis der Stadt Jena erhalten.
Herzlichen Glückwunsch auch an dieser Stelle noch einmal von uns!

Die Laudatio für Konrad Erben hielt Ayşe Güleç, Pädagogin und Mitinitiatorin des NSU-Tribunals in Köln.


Hier findet ihr den Redebeitrag von Konrad zur Preisverleihung:
Sehr geehrte Mitmenschen,

ich möchte meine Rede heute so beginnen, wie es der Oberbürgermeister bei der Einweihung des Enver-Şimşek-Platzes vor wenigen Wochen getan hat. Ich will sagen, warum und für wen wir heute hier sind. Enver Şimşek – Abdurrahim Özüdoğru – Süleyman Taşköprü – Habil Kılıç – Mehmet Turgut – İsmail Yaşar – Theodoros Boulgarides – Mehmet Kubaşık – Halit Yozgat und Michèle Kiesewetter. Das sind die Namen der mindestens zehn vom NSU ermordeten Menschen. Unzählige weitere Namen stehen als Hinterbliebene hinter ihnen. Noch einmal mehr waren Betroffene der mindestens drei Bombenanschläge in Nürnberg und Köln. Bevor die Neonaziterroristen des NSU von Jena aus in den Untergrund gingen terrorisierten sie hier in dieser Stadt Migrant*innen, People of Color und Antifaschist*innen, die sich ihnen in den Weg stellten.

Ich kann Ihnen sagen, dass für mich die Auseinandersetzung mit dem NSU-Komplex lange eine war, die ich gescheut habe. Zu nah war mir der Naziterror und die Gewalt aus persönlichem Erleben, als dass ich mich dem ungeheuren Ausmaß des NSU-Komplexes auch noch hätte beschäftigen wollen. Ich wollte die Details nicht wissen. Ich wollte nicht wissen, wie diese zehn Menschen gestorben sind, ich wollte nicht wissen, wie sie im Bekennervideo ihrer Mörder verhöhnt werden, ich wollte nicht wissen, wie staatliche Behörden mitgemordet haben. Ich wollte mich dem nicht aussetzen. Ich kann diesen Preis heute deshalb höchstens stellvertretend entgegen nehmen. Stellvertretend für Ricarda Holthaus, die überhaupt erst die Initiative für die Gedenkveranstaltungen gegeben hat, stellvertretend für NSU-Komplex auflösen, die die Auseinandersetzung mit dem Thema seit Jahren betreiben, stellvertretend für Menschen aus der JG-Stadtmitte, vom Aktionsbündnis gegen Rechts und andere Antifaschist*innen, die sich schon klar gegen die Neonazis positioniert hatten, als die meisten nichts mitbekommen haben wollen.

Dabei waren die Nazis stets sichtbar. Sie sind nicht 1933 über die Deutschen gekommen, wie der Wolf über das Reh. Die Deutschen haben sie gewählt. Mit allem was dazugehört. Mit der Shoah, Krieg, Vernichtung und unvorstellbarer Menschenverachtung. Der Historiker Michael Wildt drückt es so aus: „Die Nationalsozialisten haben es verstanden, an viele Wünsche und Sehnsüchte anzuknüpfen (…)“. So wie die alten Nazis nicht über die Deutschen gekommen sind, sind die Neonazis der 90er ebenso wenig über das Land und die Stadt gekommen. Auch sie waren ein Produkt der Mehrheitsgesellschaft. Der Soziologe Wilhelm Heitmeyer hat in diesem Zusammenhang den Begriff des „Extremismus der Mitte“ neu geprägt. Er spricht davon, dass der Faschismus – und mit ihm die Neonazis – aus der Mitte der Gesellschaft heraus entstehen. Wie ihre Themen anknüpfungsfähig an verbreitete Diskurse sind, sie eben nicht von rechts die demokratische Mitte bedrohen, sondern mit ihr eng verwoben sind. Er versteht Neonazis also als das Produkt einer verrohten Mitte.

Das mag ihnen jetzt wie eine steile These erscheinen, ist es aber nicht. Wir wissen darum, wie verbreitet gruppenbezogen menschenfeindliche Einstellungen sind. Nehmen Sie nur den Thüringen Monitor, eine wissenschaftliche und repräsentative Erhebung. Er fragt die Thüringer*innen unter anderem ob “Deutschland durch Ausländer in gefährlichem Maße überfremdet sei”. Seit 20 Jahren beantwortet die Hälfte der Menschen in diesem Land diese Frage mit ja. Zuletzt 56 %. 56 % sind nicht wenige, 56 % sind die Mehrheit. Man kann nicht davon sprechen, es ginge um extremistische Feinde der Demokratie. 56 % sind die Mitte der Gesellschaft. 56 % ist eine*r links von Ihnen oder eine*r rechts von Ihnen. Vielleicht nicht hier und heute in diesem ausgewählten Publikum. Wenn Sie raus vor die Türen des historischen Rathauses gehen aber schon. Und was der NSU getan hat, war nichts anderes, als im Interesse dieser Mitte zu handeln. Er hat das selbst definierte Feindbild ins Visier genommen. Die Ausländer. Selbsterklärtes Ziel waren „Unarische Männer im zeugungsfähigen Alter“. Würde man nun eben jene Hälfte der Menschen fragen, ob sie das mit den Morden, den Bomben, den Überfällen, denn so gewollt hätten, würden das wohl nur die wenigsten offen gutheißen. Wenn sie aber gleichzeitig die Überzeugung, dass „Ausländer“ Deutschland in gefährlichem Maße überfremden würden, in sich und in den Diskurs tragen, dann tragen sie eben auch eine Verantwortung für die, die den Terror vollziehen. Das Problem sind nicht zuerst die Neonazis. Sie sind sichtbar, ächtbar, bekämpfbar. Das Problem sind zuallererst mal die braven Bürger*innen, die gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit in sich und in das gesellschaftliche Klima tragen. Es ist der Extremismus der Mitte, der die Demokratie, aber vor allem die Menschen bedroht, die ins Visier von radikalisierten Menschenfeinden geraten.

Es ist fast schon müßig zu sagen, dass die neun aus rassistischen Motiven ermordeten Menschen keine Fremden wahren, sondern fremd gemacht wurden. Sie hatten ihren Lebensmittelpunkt in Deutschland. Sie waren hier. Damit waren sie genauso wenig fremd wie Sie oder ich. Ganz so simpel, wie es Bundesaußenminister Heiko Maaß ausgedrückt hat, als er sagte, „[Enver Şimşek ist] einer von uns“ ist es dann aber auch nicht. Denn nicht nur die Morde der Neonazi-Terroristen waren rassistisch. Auch die anschließenden Ermittlungen der Behörden, die Reaktionen in den Medien und die Ignoranz der Mitte. Bedenken Sie, das Kern-Trio des NSU hat sich erst 2011 selbst aufgedeckt. Dabei haben Hinterbliebenen der Ermordeten bereits 2006, also fünf Jahre früher unter dem Motto „Kein zehntes Opfer“ demonstriert. Sie haben auf den wahrscheinlichen rechtsradikalen Hintergrund der Morde hingewiesen. Manche übrigens bereits während der Ermittlungen Jahre vorher. Ernst genommen wurden sie nicht.

Ernst genommen wurden auch diejenigen nicht, die in den 90er Jahren in Jena auf die Entstehung der rechten Terrorgruppen hingewiesen haben. 1998 gab es einen Flyer, in dem Jugendliche der JG-Stadtmitte und das Aktionsbündnis gegen Rechts vor national befreiten Zonen in Jena gewarnt haben. Die zuständigen Straßensozialarbeiter aus dem Umfeld der Neonazis haben sich mit Rückendeckung des städtischen Jugendamtes dagegen verwehrt. Sie haben eine merk- und fragwürdige Unterscheidung vorgenommen. Da gäbe es die Faschos, die Scheitel-Nazis. Die ideologisch geschulten Kader, mit denen man nicht arbeiten könne. Und dann gäbe es da aber noch die damals so bezeichneten “Glatzen”. Eigentlich unpolitische, vom Leben gebeutelte, verlorene Schäfchen. Arme Kinder ihrer Zeit, die man mit genug Akzeptanz in den Schoß der Mitte zurückholen könnte. Führen Sie sich nun vor Augen, welche Personen im NSU-Komplex zu verorten sind. Ich will die Namen nicht nennen, das passiert viel zu oft. Nur so viel: Da haben Faschos und Glatzen Seite an Seite gemordet und terrorisiert. Weil sie eben nicht künstlich getrennt werden können, sondern Ideologie und Gewaltbereitschaft miteinander teilen. Vermeintlich verlorene Schäfchen waren Wölfe im Schafspelz.

Das galt für die alten Nazis, das galt für die Neonazis und das gilt auch für neue Rechte von heute. Denken Sie an das bekannte Zitat des NS-Propagandaministers: „Wir kommen nicht als Freunde, auch nicht als Neutrale. Wir kommen als Feinde! Wie der Wolf in die Schafherde einbricht, so kommen wir.“

Die Lehre aus der Geschichte ist deshalb klar. Demokrat*innen können sich nicht im Appeasement, also der beschwichtigenden Akzeptanz oder Deradikalisierung durch Einbindung von rechts üben. Sie können sich nicht darauf berufen, es ginge um die Sache oder Sachzwänge. Die Antwort auf rechte Wölfe im Schafspelz ist Abgrenzung und Stigmatisierung. Es geht dabei auch nicht um einzelne Personen, die man Faschist nennen darf. Auch das was dahinter steht, in den Parteien und Organisationen der neuen Rechten ist zutiefst menschenverachtend und will im Sinne der autoritären Menschenverachtung die Demokratie aushöhlen. Demokraten sind sie immer nur für sich und ihresgleichen, solange es ihnen nützt. Wenn man es mit der Demokratie, Grundrechten und der historischen Verantwortung ernst meint, muss man ihnen die Maske vom Gesicht reißen und benennen was zum Vorschein kommt, statt ihnen der Sacharbeit wegen die Hand zu reichen. Der Zweck heiligt die Mittel nicht und er macht aus einem Wolf im Schafspelz kein Lamm.

Lassen Sie mich zum Ende noch einmal auf die Frage zurück kommen, warum wir hier sind. Warum wir zu jedem Tag einer Ermordung und eines Bombenattentates in der Johannisstraße stehen und erinnern, an das was geschehen ist und wer betroffen war. Wir tun es, weil wir versuchen wollen erstens, die Erinnerung an die Menschen wach zu halten, die es betroffen hat. Ihre Geschichten immer wieder zu erzählen, sie nicht in Vergessenheit geraten zu lassen. Zweitens, um Aufklärung zu fordern. Der NSU-Komplex ist bis heute nur in Ausschnitten beleuchtet. Das Versprechen nach der lückenlosen Aufklärung, das die Bundeskanzlerin den Hinterbliebenen und Überlebenden gegeben hat, ist bis heute nicht eingelöst. Dieses Versprechen verpflichtet uns alle, ganz besonders die, die in politischer oder staatlicher Verantwortung stehen und in politischem oder staatlichem Auftrag handeln. Wir tun es drittens, um das Bewusstsein dafür zu schärfen, dass das was einmal geschehen ist, wieder geschehen kann. Eigentlich eine Binsenweisheit. Aber angesichts immer wieder bekannt werdender neuer rechter Terrorzellen aus Stammtischen, Polizei, Militär und Behörden offensichtlich notwendig. Das Potential gibt es auch in Jena. Neonazis und ihre Unterstützer aus den 90ern sind heute gut im Establishment angekommen. Sie betreiben Speditionen, Gastronomie und organisieren sich im Umfeld von Fußballvereinen neu. Die Wölfe haben den Schafpelz wieder angezogen.

Aus einem Grund machen wir es aber ausdrücklich nicht. Wir machen es nicht für das Image, den Ruf, das Ansehen der Stadt Jena. Ich bin jedes Mal wieder tief betroffen und empört, wenn dieses Narrativ aufkommt. Es ist nicht neu und nicht exklusiv. Schon nach Rostock-Lichtenhagen war die größte Sorge, wie das denn das Bild von Deutschland in der Welt beeinflussen könnte. Aber lassen Sie mich ganz deutlich sagen. Wo Menschen terrorisiert und ermordet werden, geht es nicht um Image oder Marketing. Es geht erst einmal um die Menschen, die ins Visier geraten sind. Danach geht es darum, die zur Rechenschaft zu ziehen, die dafür verantwortlich sind. Denn der Maßstab für unsere Gesellschaft ist nicht, wie vermarktbar wir sind, sondern wie wir miteinander umgehen. Hier will ich zum Abschluss noch einmal auf den Bundesaußenminister kommen, der bezugnehmend auf den Mord an Enver Şimşek folgendes schrieb:

„Viele machen sich deshalb Sorgen um das Bild von Deutschland im Ausland. Ja, ich sorge mich auch, aber nicht so sehr um unser Bild, das wir nach außen abgeben. Sondern um das, was uns nach innen zusammenhält. Deutschland ist ein vielfältiges Land, das seit Jahrzehnten von Migration profitiert. Das sieht man von außen. Aber innen ist das noch nicht überall angekommen. Außen und Innen müssen jedoch einen Gleichklang ergeben. Nur dann sind wir glaubwürdig.“ (Heiko Maas, Gastbeitrag ZEIT, 09.09.2020)

Folgendes will ich noch hinzufügen. Nur, wenn wir dem gerecht werden, können wir überhaupt davon sprechen, dass wir tatsächlich hier sind für Enver Şimşek – Abdurrahim Özüdoğru – Süleyman Taşköprü – Habil Kılıç – Mehmet Turgut – İsmail Yaşar – Theodoros Boulgarides – Mehmet Kubaşık – Halit Yozgat und Michèle Kiesewetter.