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Denk dran


25. Aug. 2022

Sie sitzt mit ihren vier Kindern im kleinen Wohnzimmer des elfgeschossigen Wohnhauses. Die Dreijährige spielt gedankenversunken mit ihrer Lieblingspuppe. Die drei Großen haben die Hände in den Schoß gelegt. Ihre Mutter starrt zur Decke. Auf dem angrenzenden Hausflur herrscht ohrenbetäubender Lärm. Leute rennen auf und ab. Der Vater der Familie ist seit Stunden fort. Eines der Kinder sagt plötzlich: „Mama, ich hab Angst! Was machen wir denn jetzt?“ Die Mutter geht in die Küche, will etwas zu trinken holen. Da fährt sie zusammen. Alle Kinder schreien aus dem eben noch beängstigend stillen Wohnzimmer panisch und so schrill, dass die Mutter diese Töne später nie mehr aus ihrem Kopf bekommen wird. Sie stolpert hinüber. In dem von schwerem, heißem Rauch durchdrungenen Zimmer bricht ihr Schweigen, dass schon Stunden oder Tage währte mit einem Schlag. Sie weint, schreit, ruft und sie findet die vier Kinder, reißt sie an den Händen zur Tür hinaus auf den Flur, den Gang entlang.

Kannst du dir vorstellen, dass dir das passiert? Dass du so etwas erleben musst? Vor dreißig Jahren ist das tatsächlich geschehen. In Rostock-Lichtenhagen haben in der Nacht vom 24. auf den 25. August 1992 hunderte besessene Faschisten, Männer und Frauen, brutale, mordlüsterne Verbrecher, Flaschen mit brennenden Flüssigkeiten durch die Fenster des sogenannten „Sonnenblumenhauses“, ein Wohnheim für ehemalige vietnamesische Vertragsarbeiter*innen, geschleudert. Sie skandierten: „Wir kriegen euch alle!“ In dem Haus waren Kinder! Die Bewohner*innen des Gebäudes waren unschuldig und schutzlos ausgeliefert!

Stell dir vor, du sitzt in so einem Haus, in einem Land wie unserem, wo du dich immer sicher fühltest. Und dann rücken Tausende vor und haben nichts anderes im Sinn als dich kalt zu machen!

In den letzten 30 Jahren gab es tausende ähnlicher Übergriffe gegen schutzsuchende Menschen, die hofften, wenigstens in Deutschland sicher zu sein. Allein in den Jahren 2015 und 2016 zählen die Statistiken an die 1000 Anschläge auf Wohnheime asylsuchender Geflüchteter. Wenn der Hass mehr und mehr Raum in unserem Land, in unserer Stadt, in unserer Nachbarschaft, in unseren Familien und Beziehungen erhält, dann sind wir, dann bist du vielleicht auch irgendwann dran, auch wenn du denkst, das ist weit weg und lange her! Und machen wir uns nichts vor, wir alle sind schon verstrickt und verquickt mit unterschiedlichsten lebensfeindlichen Strukturen und Systemen. Ich bitte dich, schau nicht mehr weg! Kämpfe mit den Friedfertigen und mit friedlichen Mitteln für den gerechten Frieden! Das sind wir allen Opfern und unseren Kindern schuldig!

Jesus lehrte in der Bergpredigt: „Selig sind, die Frieden stiften; denn sie werden Gottes Kinder heißen.“ Matthäus 5,9

Im Gedenken an die Opfer von Rostock-Lichtenhagen.

Andreas Simon, Stadtjugendpfarrer