Im letzten Jahr im März, als die Hoffnung da war, dass diese Pandemie bestimmt schnell vorbei und bald alles wieder normal ist, haben wir es geschafft, binnen kürzester Zeit unsere Kommunikation umzustellen. Die Inforunde fand bei jitsi statt, es gab ein Konzert und eine Disco im Stream, Vorträge und auch ein Offenes Café. Das war verdammt gut und wichtig und trotzdem hat etwas gefehlt… Das Vogelzwitschern bei uns im Hof, wenn der Frühling erwacht, der frisch gebrühte Kaffee mit Freunden, die lautstarken Jubelrufe wenn das entscheidende Match am Kickertisch gewonnen wurde und Orte für zufällige Begegnungen, kurze Gespräche unter vier, sechs oder acht Augen. Denn so ganz kann das eine Videokonferenz eben doch nicht simulieren. Dann kam der Sommer, Treffen in kleineren Gruppen waren wieder möglich, unsere Inforunde war endlich wieder im Hof, und der offene Abend bestand nicht nur aus lauter viereckigen Köpfen, die miteinander sprachen. Die vielen Videokonferenzen rückten in den Hintergrund, auch wenn der Herbst und damit die (wahrscheinlich) steigenden Fallzahlen immer näher kamen. Wir hatten ein bisschen Glück. Bis kurz vor Weihnachten konnten wir uns treffen, fanden Lösungen für die Inforunde und hatten sogar eine kleine Adventsfeier. Tja und nun? Die aktuelle Situation ist nicht gerade aufbauend. Es ist kalt und nass draußen, die ganze pandemische Lage verunsichert, raubt Kraft, macht müde und manchmal auch wütend. Und das was so dringend gebraucht wird, ein Ort zum Treffen und Austauschen, ist im echten Leben nicht vorhanden.
So gar nicht?
Nicht ganz. Die JG ist jetzt online. Ihr könnt euch mit Freunden treffen. In die JG zur Inforunde kommen, oder einfach im Café rumhängen. Stück für Stück werden wir die Pixel-JG um Inhalte erweitern, Spiele integrieren und dann irgendwann bestimmt auch mal eine Veranstaltung haben (ne Disko vielleicht?).
Wies funktioniert? Ganz einfach. Mit deinem Webbrowser, aktuell am besten Chrome oder Chromium, besuchst du diesen Link hier. Du wirst gebeten, deine Kamera und dein Mikrofon einzuschalten, diese Erlaubnis teilst du und schon gehts los, du bist angekommen in der virtuellen JG. Leider werden derzeit noch keine mobilen Geräte wie Smartphone oder Tablet unterstützt, wir hoffen, dass es da bald ein Update gibt. Schau dich in Ruhe um. Um den Raum zu wechseln suchst du am besten nach Orten die heller leuchten oder irgendwie hervorgehoben sind. In den verschiedenen Räumen gibt es jitsi-Konferenzen die ihr gerne nutzen könnt. Wenn ihr euch privat unterhalten wollt, verlasst einfach die jitsi-Konferenzen, sobald ihr nah genug beieinander steht ploppt eure ganz private Konferenz auf. Bestimmt wird es am Anfang hier und da noch etwas ruckeln, gebt uns dann einfach über die gängigen Wege mal einen Hinweis – wir werden aber auch in der virtuellen JG zu finden sein. Zum Beispiel heute Abend zum offenen Abend ab 19:00 Uhr oder dann zur Inforunde ab 19:45 Uhr Bis dann! P.S. Die Inforunde erreicht ihr auch hier: Jitsi.
Dieser Beitrag widmet sich dem rassistischen Anschlag der Jenaer Neonaziterrorgruppe NSU vom 19.01.2001 in der Kölner Probsteigasse. Normalerweise würden wir heute eine Kundgebung in der Johannisstraße durchführen, um an die Betroffenen zu erinnern und die weitere Auseinandersetzung mit dem NSU-Komplex einzufordern. Aufgrund der Pandemielage haben wir uns gegen eine Präsenzveranstaltung entschieden.Wir richten unser Gedenken und unsere Forderungen deshalb an die Jenaer Öffentlichkeit, weil der NSU von hier kam. Diese Neonazis waren auch ein Produkt städtischer Jugendhilfepolitik und eines gesellschaftlichen Klimas, in dem der Hass auf tatsächlich oder vermeintlich Fremde konsensfähig war. Diese Neonazis sind hier zur Schule gegangen, ihnen wurden hier Einrichtungen der Jugendarbeit zur Verfügung gestellt und sie konnten sich auf eine Stadtgesellschaft verlassen, die ihrem Terror in weiten Teilen gleichgültig bis hin zu wohlwollend gegenüberstand. Deshalb bleibt die Auseinandersetzung mit dem NSU-Komplex eine Aufgabe für Jena auf allen Ebenen. Politisch, Gesellschaftlich und Individuell.—Kurz vor Weihnachten im Jahr 2000, betritt ein Mann ein Lebensmittelgeschäft in der Kölner Probsteigasse, das von einer deutsch-iranischen Familie betrieben wird. Der Mann trägt einen Korb bei sich, in diesem befindet sich eine weihnachtlich gestaltete Stollendose. Der Mann legt einige Waren in den Korb, dann sagt er habe seine Geldbörse vergessen und käme gleich wieder. Den Korb lässt er zurück. Der Mann kommt nicht wieder, also verstaut der Inhaber des Geschäftes den Korb in einem Nebenraum.Rund vier Wochen später, am 19. Januar 2001, heute vor 20 Jahren, öffnet die damals 19-jährige Tochter des Inhabers die Dose. Sie möchte herauszufinden, was sich daran befindet. Die Dose explodiert. Sämtliche Scheiben zerbersten, die Decke des Nebenraums bricht herunter, Teile der Wände werden abgesprengt. Die junge Frau wird dabei schwer im Gesicht und an einer Hand verletzt. Gutachter kommen später zu dem Ergebnis, dass es nur eine Verkettung glücklicher Umstände in der Anordnung des Raumes gewesen ist, der sie ihr Leben verdankt und durch die keine Passant*innen auf der Straße verletzt worden sind.Dass der Laden von einer deutsch-iranischen Familie betrieben wurde, war auf den ersten Blick nicht erkennbar. Auf dem Ladenschild stand „Lebensmittel Getränkeshop Gerd Simon“. Die neonazistischen Täter wussten, dass er von Migrant*innen geführt wurde. Und sie konnten es nur wissen, weil sie ortskundige Hilfe bei der Planung und Durchführung ihrer Tat hatten.Damals galten der Polizei ein Racheakt aus dem Rotlicht-Milieu, finanzielle Schwierigkeiten mit einem türkischen Bauunternehmer oder eine mögliche Vergeltung des iranischen Geheimdienstes als möglich. Im Juni 2001 stellt die Kölner Staatsanwaltschaft die Ermittlungen ein, im Januar 2006 lässt sie alle Tatortspuren zerstören. Verjährt war die Tat damals noch nicht. Das wir heute wissen, dass die Tat vom NSU verübt worden ist, liegt nur daran, dass die Stollendose 2011 im Bekennervideo der Neonazis auftauchte.Zwei Drittel des NSU-Kerntrios sind tot und können nicht zur Rechenschaft gezogen werden, eine verbüßt ihre Haftstrafe. Der Fall ist damit aber nicht abgeschlossen. Kurz nach dem Anschlag ist durch die Polizei ein Phantombild, basierend auf den Angaben des Geschäftsinhabers erstellt worden. Dieses Phantombild aber hat keine Ähnlichkeit mit den beiden Männern des NSU-Kerntrios. Nicht auch nur die geringste. Eine frappierende Ähnlichkeit hat das Bild hingegen mit jemand anderem. Und aufgefallen ist das ausgerechnet dem nordrhein-westfälischen Verfassungsschutz. Der teilt kurz nach Erstellung des Phantombilds, dem polizeilichen Staatsschutz in Köln mit, das Bild ähnele einem Kölner Neonazi und V-Mann. Besagten V-Mann hat das Bundeskriminalamt in seinen Ermittlungen zum NSU nie befragen wollen, ebenso wenig die Generalbundesanwaltschaft, ebenso wenig das Münchener Oberlandesgericht.Der Anschlag in der Kölner Probsteigasse steht exemplarisch für die mangelhafte Aufklärung des NSU-Komplexes. Es steht der Verdacht der Verwicklung eines V-Manns im Raum, ebenso soll der Verfassungsschutz Akten dazu vernichtet haben, die Polizei hat in fragwürdige Richtungen ermittelt und im NSU-Prozess waren Generalbundesanwaltschaft und das Münchener Oberlandesgericht eher bemüht, irgendeinen Abschluss zu erreichen, als die Wahrheit lückenlos zu ermitteln.Wir wollen an dieser Stelle auch erwähnen, dass grade erst letztes Jahr weitere Hinweise darauf aufgetaucht sind, dass wir nur einen Bruchteil des Ausmaßes des NSU-Komplex kennen. Über die bereits bekannten Verbindungen der Tatverdächtigen des Mordes an Walter Lübcke hinaus, taucht in diesem Zusammenhang seit letzter Woche ein neuer Name auf. Andreas Temme. Der Mitarbeiter des Verfassungsschutzes also, der beim Mord an Halit Yozgat zugegen war und seine Verwicklung darin zu vertuschen versucht.Wir erneuern deswegen unsere Forderung. Der NSU-Komplex muss restlos aufgeklärt werden! Verantwortliche aus der rechten Szene, dem Verfassungsschutz und Ermittlungsbehörden müssen zur Verantwortung gezogen werden. Das sind wir den Opfern, ihren Familien und den Betroffenen schuldig.
Am Montag den 9.11 findet eine Gedenkveranstaltung zum 82. Jahrestag der Novemberpogrome statt. Wir wollen den Opfern des Nationalsozialismus und damit den mehreren Millionen verfolgten und ermordeten Juden und Sinti und Roma gedenken. Kommt 15 Uhr zum Erinnerungsort Holzskulptur in der Johannisstraße. Gegen die Gleichgültigkeit und das Vergessen. #Neveragain #Neverforget #Reichspogromnacht #9November
Dieses Jahr findet der 29 ½ Ratschlag Thüringen etwas anders statt.Doch mal wieder ist antifaschistische Arbeit wichtiger denn je. Nicht nur der Rassismus gegen asiatisch gelesene Menschen in der Krise und die menschenunwürdigen Verhältnisse in den Flüchtlingsunterkünften in Griechenland. Auch der Mord an George Floyd und die darauffolgende überfällige Diskussion über rassistische und kolonialisierte Strukturen, Verschwörungstheoretiker und Faschisten die Hand in Hand täglich mehr Menschen mobilisieren und die Auswirkungen des Patriarchalem Systems auf Mütter und Frauen in der Pandemie schreien nach antifaschistischen Handlungskonzepten und der Auseinandersetzung mit dem Problem.Schaltet euch bei den digitalen Workshopangeboten rein und seid bei den dezentralen Mahngängen dabei!Alle Infos findet ihr hier: https://fb.me/e/4H7fzG5Mt#antifaschistischer#antirassistischer#Ratschlag#Thüringen
Konrad Erben hat am vergangenen Freitag den Zivilcouragepreis der Stadt Jena erhalten. Herzlichen Glückwunsch auch an dieser Stelle noch einmal von uns!
Die Laudatio für Konrad Erben hielt Ayşe Güleç, Pädagogin und Mitinitiatorin des NSU-Tribunals in Köln.
Hier findet ihr den Redebeitrag von Konrad zur Preisverleihung: Sehr geehrte Mitmenschen,
ich möchte meine Rede heute so beginnen, wie es der Oberbürgermeister bei der Einweihung des Enver-Şimşek-Platzes vor wenigen Wochen getan hat. Ich will sagen, warum und für wen wir heute hier sind. Enver Şimşek – Abdurrahim Özüdoğru – Süleyman Taşköprü – Habil Kılıç – Mehmet Turgut – İsmail Yaşar – Theodoros Boulgarides – Mehmet Kubaşık – Halit Yozgat und Michèle Kiesewetter. Das sind die Namen der mindestens zehn vom NSU ermordeten Menschen. Unzählige weitere Namen stehen als Hinterbliebene hinter ihnen. Noch einmal mehr waren Betroffene der mindestens drei Bombenanschläge in Nürnberg und Köln. Bevor die Neonaziterroristen des NSU von Jena aus in den Untergrund gingen terrorisierten sie hier in dieser Stadt Migrant*innen, People of Color und Antifaschist*innen, die sich ihnen in den Weg stellten.
Ich kann Ihnen sagen, dass für mich die Auseinandersetzung mit dem NSU-Komplex lange eine war, die ich gescheut habe. Zu nah war mir der Naziterror und die Gewalt aus persönlichem Erleben, als dass ich mich dem ungeheuren Ausmaß des NSU-Komplexes auch noch hätte beschäftigen wollen. Ich wollte die Details nicht wissen. Ich wollte nicht wissen, wie diese zehn Menschen gestorben sind, ich wollte nicht wissen, wie sie im Bekennervideo ihrer Mörder verhöhnt werden, ich wollte nicht wissen, wie staatliche Behörden mitgemordet haben. Ich wollte mich dem nicht aussetzen. Ich kann diesen Preis heute deshalb höchstens stellvertretend entgegen nehmen. Stellvertretend für Ricarda Holthaus, die überhaupt erst die Initiative für die Gedenkveranstaltungen gegeben hat, stellvertretend für NSU-Komplex auflösen, die die Auseinandersetzung mit dem Thema seit Jahren betreiben, stellvertretend für Menschen aus der JG-Stadtmitte, vom Aktionsbündnis gegen Rechts und andere Antifaschist*innen, die sich schon klar gegen die Neonazis positioniert hatten, als die meisten nichts mitbekommen haben wollen.
Dabei waren die Nazis stets sichtbar. Sie sind nicht 1933 über die Deutschen gekommen, wie der Wolf über das Reh. Die Deutschen haben sie gewählt. Mit allem was dazugehört. Mit der Shoah, Krieg, Vernichtung und unvorstellbarer Menschenverachtung. Der Historiker Michael Wildt drückt es so aus: „Die Nationalsozialisten haben es verstanden, an viele Wünsche und Sehnsüchte anzuknüpfen (…)“. So wie die alten Nazis nicht über die Deutschen gekommen sind, sind die Neonazis der 90er ebenso wenig über das Land und die Stadt gekommen. Auch sie waren ein Produkt der Mehrheitsgesellschaft. Der Soziologe Wilhelm Heitmeyer hat in diesem Zusammenhang den Begriff des „Extremismus der Mitte“ neu geprägt. Er spricht davon, dass der Faschismus – und mit ihm die Neonazis – aus der Mitte der Gesellschaft heraus entstehen. Wie ihre Themen anknüpfungsfähig an verbreitete Diskurse sind, sie eben nicht von rechts die demokratische Mitte bedrohen, sondern mit ihr eng verwoben sind. Er versteht Neonazis also als das Produkt einer verrohten Mitte.
Das mag ihnen jetzt wie eine steile These erscheinen, ist es aber nicht. Wir wissen darum, wie verbreitet gruppenbezogen menschenfeindliche Einstellungen sind. Nehmen Sie nur den Thüringen Monitor, eine wissenschaftliche und repräsentative Erhebung. Er fragt die Thüringer*innen unter anderem ob “Deutschland durch Ausländer in gefährlichem Maße überfremdet sei”. Seit 20 Jahren beantwortet die Hälfte der Menschen in diesem Land diese Frage mit ja. Zuletzt 56 %. 56 % sind nicht wenige, 56 % sind die Mehrheit. Man kann nicht davon sprechen, es ginge um extremistische Feinde der Demokratie. 56 % sind die Mitte der Gesellschaft. 56 % ist eine*r links von Ihnen oder eine*r rechts von Ihnen. Vielleicht nicht hier und heute in diesem ausgewählten Publikum. Wenn Sie raus vor die Türen des historischen Rathauses gehen aber schon. Und was der NSU getan hat, war nichts anderes, als im Interesse dieser Mitte zu handeln. Er hat das selbst definierte Feindbild ins Visier genommen. Die Ausländer. Selbsterklärtes Ziel waren „Unarische Männer im zeugungsfähigen Alter“. Würde man nun eben jene Hälfte der Menschen fragen, ob sie das mit den Morden, den Bomben, den Überfällen, denn so gewollt hätten, würden das wohl nur die wenigsten offen gutheißen. Wenn sie aber gleichzeitig die Überzeugung, dass „Ausländer“ Deutschland in gefährlichem Maße überfremden würden, in sich und in den Diskurs tragen, dann tragen sie eben auch eine Verantwortung für die, die den Terror vollziehen. Das Problem sind nicht zuerst die Neonazis. Sie sind sichtbar, ächtbar, bekämpfbar. Das Problem sind zuallererst mal die braven Bürger*innen, die gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit in sich und in das gesellschaftliche Klima tragen. Es ist der Extremismus der Mitte, der die Demokratie, aber vor allem die Menschen bedroht, die ins Visier von radikalisierten Menschenfeinden geraten.
Es ist fast schon müßig zu sagen, dass die neun aus rassistischen Motiven ermordeten Menschen keine Fremden wahren, sondern fremd gemacht wurden. Sie hatten ihren Lebensmittelpunkt in Deutschland. Sie waren hier. Damit waren sie genauso wenig fremd wie Sie oder ich. Ganz so simpel, wie es Bundesaußenminister Heiko Maaß ausgedrückt hat, als er sagte, „[Enver Şimşek ist] einer von uns“ ist es dann aber auch nicht. Denn nicht nur die Morde der Neonazi-Terroristen waren rassistisch. Auch die anschließenden Ermittlungen der Behörden, die Reaktionen in den Medien und die Ignoranz der Mitte. Bedenken Sie, das Kern-Trio des NSU hat sich erst 2011 selbst aufgedeckt. Dabei haben Hinterbliebenen der Ermordeten bereits 2006, also fünf Jahre früher unter dem Motto „Kein zehntes Opfer“ demonstriert. Sie haben auf den wahrscheinlichen rechtsradikalen Hintergrund der Morde hingewiesen. Manche übrigens bereits während der Ermittlungen Jahre vorher. Ernst genommen wurden sie nicht.
Ernst genommen wurden auch diejenigen nicht, die in den 90er Jahren in Jena auf die Entstehung der rechten Terrorgruppen hingewiesen haben. 1998 gab es einen Flyer, in dem Jugendliche der JG-Stadtmitte und das Aktionsbündnis gegen Rechts vor national befreiten Zonen in Jena gewarnt haben. Die zuständigen Straßensozialarbeiter aus dem Umfeld der Neonazis haben sich mit Rückendeckung des städtischen Jugendamtes dagegen verwehrt. Sie haben eine merk- und fragwürdige Unterscheidung vorgenommen. Da gäbe es die Faschos, die Scheitel-Nazis. Die ideologisch geschulten Kader, mit denen man nicht arbeiten könne. Und dann gäbe es da aber noch die damals so bezeichneten “Glatzen”. Eigentlich unpolitische, vom Leben gebeutelte, verlorene Schäfchen. Arme Kinder ihrer Zeit, die man mit genug Akzeptanz in den Schoß der Mitte zurückholen könnte. Führen Sie sich nun vor Augen, welche Personen im NSU-Komplex zu verorten sind. Ich will die Namen nicht nennen, das passiert viel zu oft. Nur so viel: Da haben Faschos und Glatzen Seite an Seite gemordet und terrorisiert. Weil sie eben nicht künstlich getrennt werden können, sondern Ideologie und Gewaltbereitschaft miteinander teilen. Vermeintlich verlorene Schäfchen waren Wölfe im Schafspelz.
Das galt für die alten Nazis, das galt für die Neonazis und das gilt auch für neue Rechte von heute. Denken Sie an das bekannte Zitat des NS-Propagandaministers: „Wir kommen nicht als Freunde, auch nicht als Neutrale. Wir kommen als Feinde! Wie der Wolf in die Schafherde einbricht, so kommen wir.“
Die Lehre aus der Geschichte ist deshalb klar. Demokrat*innen können sich nicht im Appeasement, also der beschwichtigenden Akzeptanz oder Deradikalisierung durch Einbindung von rechts üben. Sie können sich nicht darauf berufen, es ginge um die Sache oder Sachzwänge. Die Antwort auf rechte Wölfe im Schafspelz ist Abgrenzung und Stigmatisierung. Es geht dabei auch nicht um einzelne Personen, die man Faschist nennen darf. Auch das was dahinter steht, in den Parteien und Organisationen der neuen Rechten ist zutiefst menschenverachtend und will im Sinne der autoritären Menschenverachtung die Demokratie aushöhlen. Demokraten sind sie immer nur für sich und ihresgleichen, solange es ihnen nützt. Wenn man es mit der Demokratie, Grundrechten und der historischen Verantwortung ernst meint, muss man ihnen die Maske vom Gesicht reißen und benennen was zum Vorschein kommt, statt ihnen der Sacharbeit wegen die Hand zu reichen. Der Zweck heiligt die Mittel nicht und er macht aus einem Wolf im Schafspelz kein Lamm.
Lassen Sie mich zum Ende noch einmal auf die Frage zurück kommen, warum wir hier sind. Warum wir zu jedem Tag einer Ermordung und eines Bombenattentates in der Johannisstraße stehen und erinnern, an das was geschehen ist und wer betroffen war. Wir tun es, weil wir versuchen wollen erstens, die Erinnerung an die Menschen wach zu halten, die es betroffen hat. Ihre Geschichten immer wieder zu erzählen, sie nicht in Vergessenheit geraten zu lassen. Zweitens, um Aufklärung zu fordern. Der NSU-Komplex ist bis heute nur in Ausschnitten beleuchtet. Das Versprechen nach der lückenlosen Aufklärung, das die Bundeskanzlerin den Hinterbliebenen und Überlebenden gegeben hat, ist bis heute nicht eingelöst. Dieses Versprechen verpflichtet uns alle, ganz besonders die, die in politischer oder staatlicher Verantwortung stehen und in politischem oder staatlichem Auftrag handeln. Wir tun es drittens, um das Bewusstsein dafür zu schärfen, dass das was einmal geschehen ist, wieder geschehen kann. Eigentlich eine Binsenweisheit. Aber angesichts immer wieder bekannt werdender neuer rechter Terrorzellen aus Stammtischen, Polizei, Militär und Behörden offensichtlich notwendig. Das Potential gibt es auch in Jena. Neonazis und ihre Unterstützer aus den 90ern sind heute gut im Establishment angekommen. Sie betreiben Speditionen, Gastronomie und organisieren sich im Umfeld von Fußballvereinen neu. Die Wölfe haben den Schafpelz wieder angezogen.
Aus einem Grund machen wir es aber ausdrücklich nicht. Wir machen es nicht für das Image, den Ruf, das Ansehen der Stadt Jena. Ich bin jedes Mal wieder tief betroffen und empört, wenn dieses Narrativ aufkommt. Es ist nicht neu und nicht exklusiv. Schon nach Rostock-Lichtenhagen war die größte Sorge, wie das denn das Bild von Deutschland in der Welt beeinflussen könnte. Aber lassen Sie mich ganz deutlich sagen. Wo Menschen terrorisiert und ermordet werden, geht es nicht um Image oder Marketing. Es geht erst einmal um die Menschen, die ins Visier geraten sind. Danach geht es darum, die zur Rechenschaft zu ziehen, die dafür verantwortlich sind. Denn der Maßstab für unsere Gesellschaft ist nicht, wie vermarktbar wir sind, sondern wie wir miteinander umgehen. Hier will ich zum Abschluss noch einmal auf den Bundesaußenminister kommen, der bezugnehmend auf den Mord an Enver Şimşek folgendes schrieb:
„Viele machen sich deshalb Sorgen um das Bild von Deutschland im Ausland. Ja, ich sorge mich auch, aber nicht so sehr um unser Bild, das wir nach außen abgeben. Sondern um das, was uns nach innen zusammenhält. Deutschland ist ein vielfältiges Land, das seit Jahrzehnten von Migration profitiert. Das sieht man von außen. Aber innen ist das noch nicht überall angekommen. Außen und Innen müssen jedoch einen Gleichklang ergeben. Nur dann sind wir glaubwürdig.“ (Heiko Maas, Gastbeitrag ZEIT, 09.09.2020)
Folgendes will ich noch hinzufügen. Nur, wenn wir dem gerecht werden, können wir überhaupt davon sprechen, dass wir tatsächlich hier sind für Enver Şimşek – Abdurrahim Özüdoğru – Süleyman Taşköprü – Habil Kılıç – Mehmet Turgut – İsmail Yaşar – Theodoros Boulgarides – Mehmet Kubaşık – Halit Yozgat und Michèle Kiesewetter.